„Ein bisschen Aua ist immer“: Stuttgarter Kickers – Wormatia Worms

38 Spieltage lang hab ich’s durchgehalten: Abstinenz von den Stuttgarter Kickers. Weil ich taktisch, personell und vor allem vereinspolitisch mit einigen Dingen nicht einverstanden war, habe ich mir selber letzte Saison Stadionverbot erteilt. Ein Ein-Mann-Boykott, der seine Wirkung gezeigt hat: letzten Samstag stand zum Saisonauftakt in Liga 4 eine ganz andere Mannschaft mit einer anderen Attitude auf dem Rasen. Endstand 1:0. Tabellenplatz 4.

Prominentester Neuzugang: Im Wurst-Wohnwagen nebenan bedient jetzt nicht mehr die Legende Paule sondern die Familie Schmidt und Panse. Wie sich das auf Wurst, Preis-Leistung und das Saisonziel auswirkt, muss man abwarten.

Der Gegner: Wormatia Worms.  Schätzungsweise mit dem Flixbus angereist. Ich weiß nicht, wie man sonst von Worms nach Degerloch kommt. Und als der Stadionsprecher damit drohte, dass jetzt gleich „Die Bürger-Maultaschen-Einlaufkinder“ mit den Mannschaften aufs Feld kämen, war jedem klar: jetzt geht’s los. Und zwar alles. Und zwar von vorne. Die gute Nachricht: die Kickers spielen immer noch auf die großen Tore. Die schlechte: ein Spiel dauert nach wie vor 2 x 45 Minuten. Bei 29 Grad Hochsommer.

Apropos: wo ist eigentlich unser Stadiondach? Tatsächlich fehlte die schattenspendende Pressspankonstruktion der Gegentribüne im Gazi-Stadion. Abgerissen, ausgeliehen oder von den Fans nach dem Fastabstieg letzte Saison kurz und klein gefeiert – man weiß es nicht genau.

Im Publikum war die Promidichte mit Joe Bauer und Edelfan Bernd bedeutend höher als auf dem Platz. Aber immerhin spielt da jetzt mit Alwin Komolong ein Nationalspieler. Gut, ein Nationalspieler aus Papua-Neuguinea, aber besser als nix. Ansonsten kennt man eigentlich nur Lhadji Badiane. War der nicht mal ne ganze Zeit unentschuldigt weg? Hatte wahrscheinlich wie ich die Schnauze voll – dann aber im Gegensatz zu mir doch noch Vertrag.

Insgesamt darf man sagen: Lhadji ist damit der bessere Kevin, Schwaben-Bräu das bessere Krombacher, die Schräglage kocht besser als Aramark und die Waldau ist schöner als der Neckarpark. Alles nicht sonderlich schwer. Trotzdem 4:0 für Degerloch.

Und der Umstand, dass bei den Kickers keiner das wirklich schöne neue Trikot aus Versehen in den Sport Breitmeyer gehängt hat, ist da noch nicht mal mitgerechnet. Und überhaupt: Menschen, die ihren Fahrradhelm während des Spiels auflassen, sieht man glaub auch nur in Degerloch.

Spielerisch war jetzt nicht alles schön. So landen einige Pässe in Sillenbuch und müssen die U7 zurücknehmen. Aber die Fans stört das wenig. Sie sind schlimmeres gewöhnt. Michael Zeyer zum Beispiel.

Beste Szene: als Beauty-Blogger Joe Bauer für einen kurzen Moment seinen Hildegard-Knef-Gedächtnis-Strohhut abnimmt, sieht man: der Mann ist nur ab der Hutkrempe abwärts rotblond.

In diesem Zusammenhang noch eine weitere Notiz für euch Fashionistas: Die 3/4 Capri-Hose – sie ist gar nicht tot. Die ist quicklebendig und lebt in einer Art Zeugenschutzprogramm in Degerloch. Joe Bauer trug allerdings trotz Schwitzesommer 1/1. Respekt dafür.

Im Fanblock B war die Stimmung von Anfang an top: Kurz vor dem Anpfiff noch eine geile Choreo rausgehauen. Stichwort: Hooligans mit Luftballons. Rock’n’Roll Damnation. Eat this, Kommando Cannstatt.

Als Torhüter Christian Ortag, der von Ingolstadt kam, in der 15. Minute einen unberechtigten Elfmeter hielt, tobte der Block. Mittendrin ein paar Jugendliche, die für all das ein bisschen zu jung schienen: rauchen, Bier trinken, den Müttern der Wormser Spieler zwielichtige Berufe unterstellen. Da fragt man sich: habt Ihr keine Hausis auf?

Die wichtigste Erkenntnis aus Halbzeit eins: Die Feldstärke hat sich verändert. Nicht zwingend auf dem Platz, aber auf dem Display. Dort, wo man früher nicht mal eine SMS losgeworden ist, hat man plötzlich LTE und vollen Empfang. Das fehlende Stadiondach wird Ihnen präsentiert von T-Mobile. Auch das muss man in Cannstatt erstmal hinbekommen, wo man sich immer noch mit dem gehackten WLAN-Passwort ’schindelmeiser69′ behelfen muss, wenn man mal eine schöne Insta-Story rauspumpen will.

In der 40. Minute fällt das verdiente 1:0. Vorlage: Lhadji Badiane, für den der B-Block daraufhin ein eigenes Lied komponiert. Im Rausch der Euphorie schmuggel ich mich in den berüchtigten B-Block. Die Erfindung des Deodorants durch Helen Barnett Diserens hat sich allerdings hier noch nicht bis zu jedem rumgesprochen.

Die Kommentare sind es dennoch wert: „Ein bisschen Aua ist immer“, meint einer. Dann pfeift der Schiri zur Pause und die meisten suchen Abkühlung unter der Tribüne. „Ihr Schatten-Ultras“ müssen sie sich von einem anderen Fan mit freiem Oberkörper beleidigen lassen. Das war doch ein freier Oberkörper – und nicht etwa das Away-Trikot, oder?

„Ich bin zu fett für die Hitze“ antwortet der Schatten-Ultra. Und da weiß ich wieder, warum man zu den Kickers geht. Es ist ja gar nicht wegen dem Amateurfußball. Es ist wegen dem zwischen den Zeilen. Wegen der Atmosphäre und dem Publikum. Weil es hier friedlich ist und heimelig. Und wenn man sich nicht unbedingt von Fußball unterhalten lassen will, ist es auch verdammt kurzweilig.

Am Mittwoch geht’s gegen Koblenz. Be there or be Fußball AG. „Wenn wir da gewinnen, haben wir 6 Punkte“ rechnet einer neben mir vor. Das große Degerlocher Einmaleins.

Auf den Rängen finden hier immer noch die größten sportlichen Leistungen statt. Und das ist auch gut so. Das ist hundert mal besser als Segway-Polo im Sauerland (kein Witz) oder die nach Postillion klingende Nachricht von letzter Woche: dass „amazon künftig die Bundesliga im Radio überträgt“. Finde die drei Fehler in diesem Satz!

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10 Comments

  1. says: Heiko

    „So landen einige Pässe in Sillenbuch und müssen die U7 zurücknehmen.“
    Der Satz ist so geil!

    Aber irgendwie machen mir die Kinder mit dem Bürger Maultascheneinlauf nun doch Angst 🙂

  2. says: Monsieur Badiane

    Das Trikot ist nicht neu, das Trikot der letzten Saison wurde behalten. Ebenso ist das Badiane-Lied nicht neu. Aber durch die „Fehler“ wirkt der letztjährige Boykott natürlich glaubwürdig. Netter Text, schöne Bilder – willkommen zurück.

  3. says: Grillmeister Rörich

    Sehr schön geschrieben. Eine Anmerkung: früher ist man auch als Roter hin und wieder auf die Waldau um 1) festzustellen, dass andere Fans mit noch schlimmerem Fußball malträtiert werden und 2) eine gescheite Rote Wurst zu bekommen. Punkt 1 ist dem Bericht zufolge nach wie vor gewährleistet, Punkt 2 seit der Übernahme der Gastro durch die Schräglage nicht mehr. In Bezug auf Stadionwurst liefern sich Aramark und Schräglage ein Gastroniveaulimbo vom feinsten

  4. says: Ronny McRörich

    Rote Wurst ist immer Geschmacksache, da gibt es ja auch rund ums Stadion Alternativem, da findet jeder eine, die ihm schmeckt.

    Insgesamt ist die Schräglage aber eine große Verbesserung im Vergleich zu Rörich sowohl bei der Angebotsvielfalt als auch bei der Qualität. Dazu noch regional erweitert mit den Maultaschen, die perfekt nach Stuttgart in ein Stadion passen. Vegetarier haben den Wrap, das Gebiet war beim Rörich totales Brachland.

    Neben der roten Wurst gibt es ja noch andere Würste. Die Bratwurst (man schneckt Kräuter und Gewürze) ist der vom Rörich (Fett und Salz) weit überlegen und allein die Feuerwurst ist ein Stadionbesuch wert.

    Klar, wenn einem eine bestimmte Wurst sehr wichtig ist, ist das schade, keine Frage. Insgesamt ist die Schräglage aber beim Gastronomielimbo dem Rörich unterlegen, so tief kommt sie nicht. Das passt schon.

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