Proteste in der Türkei: Die Taksim Kommune

Unser DJ-Kollege Cin, im Leben abseits der Disko Sozialwissenschaftler, ist vor kurzem nach Istanbul geflogen, um sich Vorort ein Bild über die Situation im Gezi-Park und Taksim-Platz zu machen. Heute Abend (Beginn 20:30 Uhr) berichtet er davon im Tonstudio bei der Veranstaltungsreihe Montage und zeigt dazu viele Bilder. Vorab hat er für uns  ein paar Zeilen verfasst und einige Fotos zukommen lassen. 

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Wenn man sich in der türkischen Politik etwas auskennt, hat man vom ersten Tag an gemerkt, dass da etwas historisches und neues geschieht. Ich selbst habe das von morgens bis abends total gespannt über soziale Netzwerke und Livestreams verfolgt. Das war mir aber nicht genug und wollte eigentlich direkt zweiten Tag der Proteste hinfliegen, was aber erst ein paar Tage klappte.

Ich bin samstagmorgens quasi vom Club direkt zum Flughafen, so dass ich es noch bis dato grössten Demonstration der Geschichte des Taksim Platzes am Mittag geschafft habe. Auf der Istiklal Strasse, die zum Taksim führt, hatte die erste Person, die ich sah, ein T-Shirt an mit dem Aufdruck: „Wir tschapullieren jeden Tag – deutsches Gymnasium Istanbul“. Zu Erklärung: Die Besetzer nennen sich sich Capulcu, weil Erdogan sie so beschimpft hat. Das bedeutet so etwas wie Gesindel, nur haben die Demonstranten den Begriff ins Positiv-ironische gedreht und bezeichnen sich jetzt selbst so.

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Im Gezi-Park angekommen herrschte überall ein buntes und lebendiges Treiben. Es wurde eine riesige Zeltstadt aufgebaut und der Park war voller Leute, die tanzten, musizierten, diskutierten und sich ihren Alltag organisierten. In langen Menschenketten wurden z.B. Spenden und Versorgungsgüter rein transportiert und der Müll rausgebracht. Der Protest war auffällig sehr jung, kreativ, weiblich, gebildet und modisch gekleidet und hing permanent am Smartphone, weil sich eben die neuen Informationen fast ausschließlich in den Sozialen Netzwerken verbreiten.

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Politisch war die Bandbreite sehr gross. Neben hunderten von kleinen linken Gruppen versammelten sich kemalistisch-nationalistische Kreise neben kurdischen Organisation, aber auch Umweltaktivisten oder Gewerkschafter. Aber die Mehrheit der Parkbewohner ist jung und das erste Mal überhaupt auf einer Demonstration. Zentral ist eine Bühne aufgebaut, in der die „Taksim Solidaritätsplattform“ alles koordiniert und die Fragen der Aktivisten beantworten.

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Weiterhin galt im Gezi Park das Prinzip: Alles für alle und umsonst. Es gab 24 Stunden mehrere Essensausgaben, Getränke, medizinische Versorgung, eine Bibliothek, einen Kindergarten, selbst mit biologischem Anbau wurde angefangen.

Taksiminvollermontur

Nach den ersten beiden friedlichen und ruhigen Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Die Polizei hat versucht, den Taksim Platz mit Gasbomben, Tränengas und Plastikgeschossen zu räumen. Der ganze Taksim Platz stand unter Gas – und das brannte höllisch! Ich versuchte mich mit Mundschutz, Schwimmbrille und Helm dagegen zu schützen, was aber eher ein psychologischer Schutz war, als das diese „Rüstung“ wirklich geholfen hätte. So sah ich auch immer wieder Verletzte, die an mir vorbeigetragen wurden.

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In der einen Woche habe ich sehr viele Fotos gemacht und mich im Park mit vielen Aktivisten unterhalten. Heute Abend werde ich bei der Montage im Tonstudio ab 20.30 Uhr viele dieser Bilder zeigen und mehr über meine Eindrücke vor Ort erzählen, aber auch auf die Ursachen und Hintergründe des Protest eingehen, da die geplante Rodung des Gezi Parks zum Bau einer Shopping Mall und Luxuswohnungen nur der letzte Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

+++ Montag 01.07.2013, 20:30 Uhr: Tonstudio, Ecke Langestraße/Theodor-Heuss Straße 23, Stuttgart
Die Besetzung des Taksim-Platzes und des Gezi-Parks in Istanbul 2013 

Die Proteste in der Türkei laufen inzwischen seit fast 4 Wochen. Seit Beginn sind Millionen von Menschen auf der Straße und protestieren für ihre demokratischen Rechte. Premierminister Erdogan und seine Regierung gehen mit härtester Polizeigewalt gegen die Bevölkerung vor und drohen mit dem Einsatz der Armee. Der Stuttgarter Sozialwissentschaftler Yalcin Kutlu war vor Ort im Istanbuler Gezi Park und berichtet von den Protesten, der Atmosphäre und der „anderen Welt“ welche die Protestierenden im besetzten Park errichtet haben.

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