Autofahrt gegen das Navi und alles für die Kickers: No sleep `til Pfullendorf

Es ist Freitagabend und die Stuttgarter Kickers sind zu Gast beim SC Pfullendorf. Wer aufsteigen will, muss auch solche Spiele gewinnen. Und wer solche Spiele gewinnen will, muss erstmal hinfahren. Das gilt für die Mannschaft – aber auch für die Fans. Die nach vielen Jahren Regionalliga die Schnauze voll haben vom Tingeln über die Dörfer. Schließlich sind sie nicht Menowin.

„It’s a long way to the top“ singen AC/DC beim Einmarsch der Mannschaft bei den Heimspielen in Degerloch immer. „It’s an even longer way to Pfullendorf“ summe ich auf meinem Weg zum Auswärtsspiel.

Denn dieser Weg ist weit. Und er führt durchs Niemandsland. Am Fuß der schwäbischen Alb werden kurz hintereinander das Rockbierfest und das Bockbierfest angekündigt.  Gleich danach beschwert sich „das von der Politik vergessene Nadelöhr Lichtenstein“ beim Verkehr fürs Durchfahren. Und als Gegenmaßnahme wird Kasperle-Theater im Zelt empfohlen. Oder halt die Band Cover X am 30. April in der lokalen Turnhalle.

Vermutlich ist für Coverbands überall in der Peripherie der Tag vor dem 1. Mai ein hoher Feiertag. Livin’ on a prayer. Born to be wild. I love rock n roll, so put another dime in the jukebox, baby. And put another Liter in the vollverzinkte Tank.

Denn freitagabends ist Albaufsteigen nur eine mittelgute Idee. Wie ein Treck wälzt sich eine RT: BC: TÜ: SIG: Kennzeichen-Karawane vor mir den Berg hoch. Alle wollen heim. Nur ich will auswärts.

Auf der Alboberfläche fällt mir dann unweigerlich einer der meist strapazierten Sätze in diesem zarten Frühling ein: hier ist die Natur noch nicht so weit.

Base gibt auf. Ab hier nur noch C- und D-Netz, dafür aber fangfrische Forellen.

Ich suche ein Stadion, doch die Beschilderung bietet mir nur einen Skilift an. Egal. Tagträume ich eben von einer Titelgeschichte im Stern, im Lift oder hier auf kessel.tv: Labbaduster! Bruno Labbadia trifft Dirk Schuster. Der eine aufgestiegen, der andere in der Euro League.

Hier auf der Alb ist das Ende des Seitenstreifens und der Beginn der ehrlichen Landmetzgerei. In Orten, deren französische Partnerstädte bekannter sind als sie selbst. Wo die Leute das Überholverbot ignorieren und lieber ein kleines Holzkreuz mit ihrem Namen am Wegrand riskieren.

Mecklesbeure – Durlesbach. Trulatrulatrulala. Ich stelle mir vor, dass die Kickers ja auch mit dem Bus hierlang gefahren sein müssen. Und alleine das ist ein Grund, gleich in Pfullendorf zu gewinnen und aufzusteigen. Wenn solche Orte nicht dein Wochenendausflugsziel sind, sondern dein Arbeitsplatz.

„Willkommen im Biosphärengebiet Schwäbische Alb“ steht auf der Anzeigetafel. Hihi, quatsch, geschwindelt – steht natürlich am Straßenrand. Pfullendorf hat gar keine Anzeigetafel.

Ich fahre gegen mein eigenes Navi: voraussichtliche Ankunftszeit 18 Uhr 38. Das wollen wir doch erst mal sehen. Ich gewinne 4 Minuten und freue mich als seien es 3 Punkte.  Anpfiff ist 19.00 Uhr und diese 240 Sekunden werden nicht nachgespielt.

Vielleicht wäre es im Kickers-Fanbus ja stressfreier gewesen? Aber bei mir läuft die bessere Musik: am Spieltag kommt die neue Gotthard-Single „Starlight“ raus und ich kaufe sie ihnen gleich digital ab.

18 Uhr 36 bietet mir das Navi an. Wir einigen uns auf 18 Uhr 34. Langsam adaptiere ich den flotten Fahrstil der Eingeborenen. Wo kriege ich jetzt bloß um diese Uhrzeit auf die Schnelle noch ein Kennzeichen mit 3 Buchstaben her?

Göttingen verlese ich mich, aber das Ortsschild meint nur Göffingen. Keine Bange. Du bist auf dem rechten Weg. Ertringen hat „Historische Hängegärten“ – aber ich hab keine Zeit. Keine Atempause. Viertligageschichte machen.

Schade eigentlich, denn ich sehe am Straßenrand einige verlockende BMW Gebrauchtwagenangebote. Tiefer als bei uns. Und auch breiter, damit mehr Platz fürs Nummernschild ist.

Neufra. Willkommen im Land der Lautschrift. Binzwangen, Erisingen. Klingt wie aus einer Erdkäs-Arbeit in der 7. Klasse: bestimmen Sie mit Hilfe des Diercke-Atlas, Seite 28, bitte die Gesteinsschichten der Schwäbischen Alb aus dem Tertiär.

Noch 60 Minuten bis zum Anpfiff. Egon Stark, Nah- und Fernverkehr, bremst mich aus. Es kommt zur Rudelbildung. Rotwürdig. Doch der Schiri lässt weiterfahren. In Herbetingen freut man sich auf die Ortsumgehung und über jeden, der jetzt noch durchfährt und bietet ihm dafür 4 Bundeskegelbahnen und 1 Schnitzel an. Aber ich habe eine Verabredung mit einer Stadionwurst. Maybe next time, baby.

Links geht’s nach Rulfingen, rechts nach Rosna, geradeaus nach Ostrach. Zum Glück muss ich solche Entscheidungen nicht treffen. Hier, wo sich Fuchs und Hase fünf geben. Navi sei dank. Denn nur mit dem Shell-Atlas bekleidet würde man hier verrecken. Next stop: Mottschiess. So sehe ich das auch.

Zwei muss man denen lassen: Landschaftlich ist es super. Und alle blinken. Was sich die Menschen in der Stadt ja gerade genetisch abgewöhnen. Aber schön ist es. Sehr sehr schön. Und da aus der vierten Liga wegen einer Reform der Regionalliga ja am Ende dieser Saison niemand absteigt, also auch nicht Pfullendorf – und Großaspach nach Lage der Dinge nicht aufsteigt, wünsche ich dem Busunternehmer Ferber mit seinem Team SG Sonnenhof für die nächste Saison viel Muße und eine gute Reise.

Deutsche Fachwerkstraße. Best-of-Ibiza-Party. Gasthof Goldener Ochsen. Noch 200 Meter bis zur Sanitärtechnik-Gerberit-Arena. You made it! Die Uhr zeigt 18:26.

Dort angekommen werde ich von 4 riesigen, fleischgewordenen Körperscannern untersucht wie zuletzt bei der Bundeswehrmusterung. HALLO??? Das sind Kickers-Fans! Das einzig Gefährliche, das wir in unseren Taschen haben, sind VW-Schlüssel, Hasenpfoten und andere Talismänner, die bei der Operation Aufstieg helfen sollen.

Aber gegen den amtierenden Tabellenführer sind eben alle Pfullendorfer übermotiviert. Auf dem Platz. Im Obi VIP-Zelt. Und am Eingang. Wenn es sich die Gemeinde leisten könnte, hätten sie für diesen Anlass am liebsten Nacktscanner angeschafft. Doch bei Stadionwurstpreisen von 2 Euro 20 (vgl. VfB: 3 Euro 50) bleiben Vereins- und Gemeindekassen leer.

Tabellenerster gegen Tabellensechzehnter – das sieht auf dem Papier besser aus als auf dem Feld. Die Kickers stellen sich in der ersten Halbzeit an wie die Fans. Und ich meine, wie die Fans von Pfullendorf. Sie kicken wie Bauern. Hier auf dem Land schmeckt Fußball noch gut-bürgerlich.

Das Waldfreibad direkt neben dem Stadion pooft derweil noch einen tiefen Dornröschenschlaf. Bis Ende Juli, schätze ich. Vorher kommt hier kein Sonnenstrahl her. Es hat 8 Grad weniger als im richtigen Leben und das Highlight der ersten Halbzeit ist folglich richtig ein Hagelschauer.

Die gegnerischen Fans – das sind in diesem Fall wir – werden in einen Kurvenblock gepfercht. Käfighaltung für die Kickers. Während die Pfullendorfer frei rumlaufen dürfen.

Viele Spieler vom SC Pfullendorf gehen unter der Woche wahrscheinlich handwerklichen Berufen nach. Und haben uns in dieser Funktion ein kleines Klohäuschen gemauert. In der Halbzeit hitzige Diskussionen an den 3 Urinalen – den Pimmel in der rechten, den Kickers-Schal fest in der linken Hand:

„Das war die schlechteste erste Halbzeit dieser Saison.“

„So steigsch net auf.“

Und

„Was macht man hier eigentlich, wenn man kacken muss?“

Berechtigte Frage. Ich schätze, du musst nach Hause fahren und es dir 150 Kilometer verheben.
 

Der Rest ist schnell erzählt: der Ex-Asylbewerber Omar Jatta wird eingewechselt, köpft das 0:1 (57.) und wird wieder ausgewechselt, weil er stark gelb-rot gefährdet ist. Ressourcenschonen im Endspurt. Das Shooting-Sternle Fabio Leutenecker macht das 0:2 und den Sack (75.) zu.

Das war die Reise wert. Die Kickers-Fans singen „Wir fahr’n nach Haus’ und ihr müsst hier wohnen.“ Der Verfolger Ponyhof Großaspach bekommt tags darauf das große Flattern und lässt Federn, weil die zweite Mannschaft von Greuter Fürth sie im Bundesliga-Aufstiegssog der ersten mit 2:1 rupft. Also sind es jetzt 6 Punkte, 4 verbleibende Spiele und 3 davon zuhause. Joe Bauer: übernehmen Sie!

 
Join the Conversation

19 Comments

  1. says: JMO2

    Ach ja, Pfullendorf. Irgendwie immer auch ein wenig Europacup aufgrund der Nähe zu Österreich und der Schweiz. Beim letzten Gastspiel meiner Lilien gabs neben Schneeregen auch Alkoholkontrollen am Eingang, ein kleiner Teil musste das Spiel dann draußen anschauen.

    Weiß einer der Kickers-Kundigen hier, wann die mögliche Verlegung des letzten Spieltags bekannt wird?

  2. says: setzer

    Großartig, ich verneige mich.
    „In Orten, deren französische Partnerstädte bekannter sind als sie selbst. Wo die Leute das Überholverbot ignorieren und lieber ein kleines Holzkreuz mit ihrem Namen am Wegrand riskieren.“

  3. says: martin

    die holzkreuz zeile mochte ich auch. aber mal ehrlich, die fahrweise im ländlichen raum ist schon teilweise beängstigend. sobald du 20 km weg bist und dich einigermaßen an die geschwindigkeit hälst klebt sofort einer massiv hinter. gut, ich bin auch eher ein vorsichtiger teilzeitautofahrer 😉

  4. says: Kollege Geiger

    @JMO wobei man ja von draußen auch ganz gut sieht, wenn man weit genug in den Wald geht.
    Und Spieltagverlegung wird wohl nicht mehr nötig sein.

  5. says: Thorsten W.

    Meisterwerk. Den Satz fand ich auch am besten: „wir fahrn nach hause und ihr müsst hier wohnen!“

    Wobei ich nicht zu laut schreien darf, ich hatte mal ne Freundin in Pfullendorf und kannte aus fast jedem der oben genannten Käffer jemanden ^^

  6. says: bernd

    ich hoffe in zwei wochen ist das thema s-bahn-liga abgehakt,
    zudem werden die tripple-kennzeichen weniger und wir sind nur doppelkennzeichenmässig auf auswärtsfahrten unterwegs… bsp. KA 🙂

    @jmo: bist die tage mal wieder oben? paule?
    @geiger: dachte immer du bist nur n roter? aber mich freut deine kickers begeistzerung

  7. says: bernd

    haha, das kenn ich zu gut.
    irgendwie hab ich mit meinen blauen in 15 jahren nur abstiege mitgemacht, höhepunkte war 2xwfv pokal gewinn und die 3.ligaquali…

    das schlimmste aber ist wirklich die wvf-pokal geschichte, da fährst echt von
    gemeinde zu gemeinde

    wir sollten den martin mal von seinem bike kratzen und dem paule mal vorstellen…

  8. says: JMO2

    @bernd: Als echter Erfolgsfan kann ich nur zum letzten Heimspiel am 18.5. und versuche den regelmäßigen Stadiongängern soviel Freibier wie möglich wegzusaufen 😀

  9. says: TG

    Jeder einigermaßen intelligente Stuttgarter den ich kenne, freut sich für die Blauen genauso wie für den VfB. Immerhin hat der VfB den Kickers ein paar dicke Talente zu verdanken und bis zum Umbau des Neckarstadions war mir das Gazistadion auch wesentlich lieber, weil man einfach richtig nach dran sitzt. Die Kickers haben die 3. Liga verdient…ach was sag ich: die 2. Liga. Gerne können sie bei Ihrem Durchmarsch in der nächsten Saison Kaalsruuh Richtung 4. Liga ballern!

  10. says: Laura

    Selten so einen genialen Beitrag gelesen. Lachmuskeln sind trainiert und ich bin gespannt auf die Berichterstattung vom Heimspiel am Sonntag !!!

  11. says: incubus

    …..allein wegen diesem Bericht MÜSSEN die „Blauen“ aufsteigen!! Lobpreiset und huldigt den „Schreiber“! Danke Kollege

  12. says: SIR Andrew

    Top! Super beschrieben! Waren auch mit dem Auto unterwegs und, muß immer noch grinsen, sind auch „gegen das Navi“ gefahren! Grins!

Leave a comment
Leave a comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert