Hallo Frau Dr. Eisenmann,

https://youtu.be/UGC_OVRqvl0

ich kenne Sie nicht persönlich. Deswegen möchte ich Sie weder angreifen, noch beleidigen. Im Gegenteil: ich bin mir fast sicher, dass Sie ein guter Mensch sind. Klar, kurz vor Weihnachten nehme ich so was im allgemeinen Besinnlichkeitstaumel oft auch vorschnell an. Da freu ich mich ja schon, weil Jon Bon Jovi doch nicht tot ist. Aber bei ihnen bin ich mir irgendwie sicher: Sie sind okay. Deswegen wende ich mich auch an Sie. Auch weil ich sonst nicht weiß, wohin mit meinen Fragen.

Ich bin mir auch sicher, dass Ihr Job als Kulturbürgermeisterin nicht das rosarote vom Ei ist. Hört sich garantiert viel leichter an als es ist. Ständig will einer Geld von ihnen: Schretzmeier, Gauthier, die Typen von irgendwelchen Kleinkunstbühnen, von den Großen auch und so weiter. Scheissjob, oder? Immer wieder zum Kassenwart dackeln und ein paar Groschen loszueisen, der rollt wahrscheinlich schon mit den Augen, wenn Sie ins Büro kommen.

Warum freuen sie sich da nicht über solche Leute wie Peter Reinhardt, Nanno Smeets und Jan Drusche? Das sind sehr nette Leute, ich kenne die. Die machen da in aller Ruhe einen Laden, „Die Röhre“ heißt der. Die wollen gar kein Geld von ihnen, keine Subventionen, nur ein Dach über dem Kopf, sie bezahlen sogar Miete.

Reinhardt, Drusche und Smeets lassen in ihrem Laden oft Bands spielen, getanzt wird da auch, Leute unterhalten sich, trinken, manche gründen dort noch an der Bar Bands, andere dürfen mit ihren Popelbands sogar dort auftreten, manche wollen nur dort auftreten und in ganz Europa kennen Leute Die Röhre. Der sturzbesoffene Sänger einer schwedischen Deathmetal Band meinte mal zu mir: „Say ‚Hi‘ to Nanno“, dann fiel er um und ein Amerikaner sagte vor ein paar Jahren sinngemäß, ich solle den Club grüßen. Als ob man Gebäude grüßen könnte. Geht natürlich nicht. Ich weiß das, weil ich kürzlich vor dem Rathaus stand und „Hallo! Geht’s noch?!“ gesagt habe. Da kam nix zurück. Auch deswegen schreibe ich Ihnen.

Worauf ich raus will: toller Laden und wertvoll, diese Röhre. Früher haben die dort fünf Mark Eintritt für die Disco verlangt. Als ein Punker mal drei Mark hinlegte und fragte, ob das eventuell reiche, da grummelte Peter Reinhardt: „Hmm, des isch a bissle dürftig.“ Dann hat der Typ einfach die restlichen zwei Mark aus der Tasche geholt. DAS ist Pädagogik.

Mal unter uns: Ein Großteil der Leute, die ihren Kollegen schwer auf den Sack gehen, sind von der Straße weg, gerade weil sie in Clubs wie der Röhre rumhängen. Ist doch mit dem Rocker 33 auch nicht anders, oder mit diesen Existenzgründern im H7, die Ihnen sonst milchkaffeeschlüfend die Plätze im Loungecafé wegblocken würden. Dach über den Kopf und aufgeräumt.

Ich weiß schon, dass Ihnen die Hände gebunden sind. Dieser Grube nervt mega, oder?  Mehdorn war ja schon schlimm. Ständig zeigen diese Stoffel mit dem Finger irgendwo drauf und brüllen „Will ich haben“. Gerade ihrem Chef Wolfgang macht das schwer zu schaffen, ich sehe das. Unter uns: Er schaut wirklich nicht gut aus und redet manchmal wie im Fieber. Burnout wahrscheinlich. Geht gerade um. Der sollte wirklich in den Urlaub, bevor er noch aus Versehen den Flughafen in eine Tiefgarage verlegt, damit man oben geiler shoppen kann. Und jajajajaja, ich weiß, dass die Röhre ein Furz, Peanuts, nichtig und nix im Vergleich zur Dimension dieses Bahnhofs ist. Aber sie ist mit all‘ ihrer Abgefucktheit ein schöner Ort. Leute fahren da freiwillig hin. Jede Woche. Manche sogar mit der Bahn.

Wissen sie, ich bin ja tatsächlich der Meinung, dass Stuttgart weder tot, noch langweilig ist. Sie werden mich diesbezüglich nie jammern hören. Ich bin sogar so naiv, laut zu sagen, dass ich Stuttgart liebe. Und dass die hiesige Subkultur der toughste Motherfucker weit und breit sein muss. Wer soviel einsteckt, wie die Leute hier und trotzdem weitermacht – der muss stark sein. So wie A Boy Named Sue.

Den Leuten ständig Stecken in die Speichen werfen ist trotzdem eine miese, gar charakterarme Geschichte. Theodor Heuss Straße, Theaterhaus, Staatstheater, Rampe, Rosenau – das ist alles wichtig für die Kultur einer Stadt. Punkrock, Drum’n’Bass, Hardcore, Dubstep, Rock’n’Roll, Elektro, HipHop, Metal und Co. aber ebenso. Vielfalt, das ist der Schlüssel. Und: Hand aufs Herz. Ihre national erfolgreichen Künstler sind doch größtenteils Leute aus eben diesen Szenen. Wie stehen die denn jetzt da?

Ab und an kommen diese Künstler in andere Städte und möchten denen was Schönes erzählen und eine lange Nase drehen, wenn die dort doof rumkichern: „Hihihi. Stuttgart“. Wenn Sie so weiter machen, dann müssen die sich dort den Mund bald fusselig reden. Und ehrlich: Ich habe auch keine Lust, jedes Mal nach Esslingen, Schorndorf – oder gottbewahre Karlsruhe – zu fahren, wenn ich eine tolle Band sehen will.

Bin verzweifelt und mit mit meinem Latein am Ende: Letzte Woche habe ich sogar Christian und Bettina Wulff angerufen. „Na, Lust auf ein Wochenende, so actionyeahmäßig, ein bisschen um die Blöcke ziehen? Könnt bei mir auf der Couch schlafen. Jägi in der Röhre geht auf mich“, habe ich amigomäßig gesagt. Christian meinte nur: „Äh, klar. In euren Clubs rumzuhängen ist mittlerweile wie Vorverkaufstickets für eine Beerdigung zu kaufen. Kackstimmung, alle sind mies drauf. Steck’s Dir in Haare, Bro“, hat er gemeint. Ich sagte „Schmieren, Christian. Das heißt schmieren.“

Okay, Frau Eisenmann, ich falle jetzt mit der Tür ins Haus: Wen müssen wir schmieren, wieviel würde das ungefähr kosten, dass ihre Kollegen die Leute endlich in Ruhe lassen? Oder könnten Sie sich eventuell dazu durchringen, mal auf den Tisch zu hauen und ihren Chef volle Kanne anzubrüllen? Oder sich vielleicht wirklich für adequate Alternativen stark machen? Oder den Leuten wenigstens menschenwürdig Zeit zugestehen, bevor Sie die auf die Straße setzen? Wie in aller Welt, sollen die Weihnachtsgeschenke shoppen, wenn sie ihr Mobiliar über die Stadt verteilen müssen und keine Ahnung haben, wo sie von nun an arbeiten sollen?

Man muss das Kunst- oder Kulturverständnis der so genannten Szene ja nicht selbst gut finden, aber wenigstens tun die etwas dafür, dass wir hier noch ein bisschen gerner leben. Die machen was. Die engagieren sich. Vom Figurentheater bis zum Kleinveranstalter, Beleuchter und Tontechniker. Grube will nur, dass die Leute wegfahren. Machen sie was, bitte.

Liebe Grüße und Frohe Weihanchten Weihnachten,
Ihr Michael

Join the Conversation

44 Comments

  1. says: Philip

    Ich bin mit meinem Latein ebenso am Ende! Da muss verdammt nochmal endlich mal jemand wachgerüttelt werden. Wie soll das denn bitte weitergehen? In Zukunft kann man dann halt supermegatoll in Stuttgart shoppen. Und äh ja – shoppen. Hier wird investiert, abgerissen und gebaut. Braucht keiner! Es gibt wichtigeres, nämlich Treffpunkte, Locations, wie Rocker und Röhre.

    Ich kann mich nur anschließen: Vollste Zustimmung. Starke Worte.

  2. says: MCBuhl

    Ach kommt schon. Irgendwie ging’s immer weiter. Auch die Röhre war mal ne Zeit lang ausgelagert (Blumenwiese), weil die Stadt geglaubt hat, sie müsse das jetzt mal so profimäßig durch organisieren. Ging genau so in die Hose wie dieses Exil di Nuovo. Exil konnt man nimmer wieder zurück switchen, weil se’s ja he gmacht ham.
    Der Charme unseres Nachtlebens ist doch auch, dass man net weiß wo hin, wenn man mal 3 Jahre in seim Viertel oder seim Vorort blieben ist. Und so manches lebt von diesem „mal sehen wie lange das gut geht“, zB Radio Bar. Oder man muss aufhören wenn’s am schönsten ist, zB Red Dog.
    Und doch ist es echt schön, dass es so ein Paar Anhaltspunkte gibt, Fixpunkte über deren Weiterexistenz sich zu versichern auch ein Stück Heimat ist. Palast. Geh ich fast nimmer hin, vlt. mal ein Milchkaffee (die nörgeln gar nimmer, wenn man „Latte“ bestellt), aber es ist good to know dass es den Ort noch gibt.
    Und wo gehört da jetzt die Röhre hin?

  3. says: Matze

    Zitat aus der StZ vom 29.03.: „Mir liegt die Kulturarbeit sehr am Herzen“, erklärt Susanne Eisenmann. „Deshalb sollen die Röhre-Inhaber so viel Unterstützung wie möglich bekommen.“

    Wo ist jetzt genau diese Unterstützung? Mal ehrlich, im Frühjahr konnte die sich relativ easy damit profilieren, die Röhre zu „retten“ und jetzt wo die Bahn macht was sie will, haben auf einmal alle keine Ahnung, fühlen sich nicht zuständig und trauen sich nicht mal auf den Tisch zu hauen.
    Armselig, traurig und irgendwie dämmert es langsam, dass wir doch für nen Bahnhof verkauft worden sind….

  4. says: LKTRSNDY

    Besser hätte man es nicht schreiben können. Was so schlimm ist, nicht mehr der Bürger, bzw die Stadt bestimmen was hier passiert, sondern ein Großkonzern, der hier jetzt wütet wie er will.
    Aber mal gucken, wie es in einem Jahr oder so aussieht. Ich denke nämlich auch, das sich immer Freiräume finden werden. Auch wenns in Stuttgart (immer) schwieriger ist (wird).

  5. says: Sputnik

    Sehr sehr guter Artikel, kenne die Stgt Szene leider nur unzureichend um mir ein Gesamtbild zu machen, meiner Meinung nach läuft der Mainstream in der Stadt ganz gut und auch bei den Hip Hoppern mag Stgt.einen guten Ruf haben. Warum finde ich mich immer auf Konzerten in unseren Nachbarländern oder in Städten wie Würzburg, KA, Schorndorf oder weiss der Geier. Kämpft weiter für Eure Nischen und die Subkultur. We won`t go down

  6. says: nico herz

    wenn eine stadt den kleinen schlossplatz abreisst, ohne zu realisieren, dass dieser platz ein, wenn auch nicht schöner, aber doch ein architektonischer zeitzeuge einzigartiger natur ist, den man nie wieder zum leben erwecken kann, und statt dessen leblose glasklötze und einen platz, der gattaca alle ehre erweist, hinpfuscht, dann kann man einfach nur das schlimmste erwarten. wenn man so engstirnig ist und nicht kapiert, dass kultur zuallererst dann so zu nennen ist, wenn sie vielfältig und allumfassend ist, dann wird das in stuttgart so weiter gehen. bis auch das letzte fünkchen eigenwilligkeit und charm jeglicher art plattgewalzt und mit geistigen „westernfassaden“ ersetzt worden ist und tatsächlich nur noch die i-phone-waschbrettbauch-geistige-harz4empfanger-generation in stuttgart vor sich hin existiert – leben is ja was anderes – dann isses rum mit stuttgart als kulturstadt. proll-autocorso´s (in der theodor heuss strasse), unter die nicht mal mehr ne briefmarke passt, mit insassen, die zusammengenommen einen intelligenzqoutienten eben dieserselben nicht einmal annähernd erreichen, sind ja schon das deutlichste abschreckungsanzeichen, das bei den kultur und stadtplanern stuttgarts irgendwie nicht ankommen will.
    und so schafft sich stuttgart eben par exellence selbst ab. aber war ja immer schon so. bald ham wir die ganze theodor heus strasse und die königstrasse gekonnt getötet und ein-euro-chinaläden und nur noch dönerbuden dort am start… aber selbst dann werden´s die stadtplaner nicht kapieren. die röhre ist da ja nur ein kleiner teil dieser traurigen bestandsaufnahme – das rocker33 trifft ja das selbe schicksal. so wie es viele andere „lichtblicke“ in stuttgart schon getroffen hat. und es werden nach und nach alle folgen.
    subkultur im keim ersticken, bevor sie sich etablieren kann – so scheint die parole.
    na dann, gute nacht stuttgart. jeden tag ein stückchen mehr.

  7. says: Toni D.

    Echt schade. Ich hatte eigentlich vor meine Farewell World Tour in der Röhre zu starten und im Anschluss daran Camping Urlaub am Landespuff. Schöne Scheiße. Danke Susi. Du bist in meinem Stresstest glatt durchgefallen. Diarrhö. Setzer 6!

  8. says: Oliboli

    sooooooooo…….
    mal a weng ausgeholt…
    berlin hat(te) den tresor, frankfurt das omen, heilbronn die alte giesserei

    STUTTGART.. das OZ, das PRAG, das STOMP, etc etc…. <- ALLES in alter form (berlin) zugemacht.

    wo sollen die leute eigentlich noch hingehen ? in´s abgefuckte TOY ?????????

    sorry, ihr schlauen köpfe der "kultur"stadt STUTTGART (ich lach mich tot…) aaaaaber stellt doch eure scheiss baumaschienen und mähdrescher woanders ab ! die RÖHRE ist zwar "nur" ein loch in ner wand, aber dafür mit überzeugung ein GUTES !!! viele verschiedene arten von musik wurde und sollten auch weiter dort veranstaltet werden, unteranderem auch seit jaaaaaahren drum 'n bass (uturn, etc)
    leute leute… lasst doch das loch in der wand, so wie es ist. es wird so viel abgerissen und platt gemacht in stuttgart, DA wird sich doch wohl auch ein weeenig platz für eure traktoren finden…

    denkt düber nach, viele grüsse aus bietigheim

    mfg oliboli – lacroix303

  9. says: Daniel

    Leider wird das unsere Liebe Susi vermutlich niemals lesen. Wer das nun in Briefform verfasst, damit ich und alle anderen hier diesen unterschrieben an Susi schicken können, bekommt meinen (unseren) Dank.

  10. says: martin

    wieso ich mir sicher bin? weil nicht nur der setzer ihr den link geschickt hat, sondern weil dieser blog sowieso ganz gern im rathaus gelesen wird. irgendjemand wird ihr das schon weitergeleitet haben. wie gesagt, zu 99% sicher 😉

  11. says: JoeJoe

    Im allgemeinen Besinnlichkeitstaumel vor und an Weihnachten bin ich froh, dass Frau Eisenmann „fast sicher“ ein „guter Mensch“ ist. Auch wenn man das „oft auch vorschnell“ annimmt.
    Ganz besonders freue mich aber, dass Jon Bon Jovi doch nicht tot ist.
    Dann kommt auch niemand auf die Idee, zu schreiben, dass jemand „zurecht tot“ ist.
    Starke Worte.

Leave a comment
Leave a comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert