TurnGala in der Porsche-Arena Stuttgart: The return of the Turnbeutel.

(Rhönrad 2.0 – die Digitalisierung ist nicht mehr aufzuhalten)

Jetzt mal ehrlich: wenn man Turnen liest und Austragungsorte wie Tübingen, Aalen, Ravensburg, Neu-Ulm, Göppingen, Heilbronn – dann denkt man doch an muffige Sporthallen mit Sprossenwand und daran, dass in diesen Hallen lokale Sportvereine in Turnsachen – im doppelten Sinne – gegeneinander antreten, oder? In Disziplinen, die einen Turnbeutel erfordern.

Dachte ich auch und bin in die Porsche-Arena zur TurnGala. Davon ausgehend, dass in der Halle Menschen auf so blauen Matten gegeneinander turnen und man kann dazwischen rumlaufen und mal einem Turner vom SV Feuerbach auf die Schulter klopfen und fröhlich fragen „Gehupft wie gesprungen?“

Es war aber schon wieder ganz anders. Ich hab das Gala in TurnGala überlesen. Und ich hab glaub Turnen mit Leichtathletik verwechselt.

Der Kollege Elbe hatte hier auf dem Blog vor Jahren schon ein großes Turn-Special. Und auch ich dachte, Turnen 2018 ist noch wie Turnen 1976. Denn was soll es im Bereich Barren, Reck, blaue Stinkematte, Ringe und Bock schon für Innovationen geben?

In meiner Vorstellung war Turnen: Mädchen in Gymnasikhosen – die Mutter aller Leggings – und Jungs in adidas Turnhosen, aus denen blasse Storchenbeine rauslugen.

Aber die TurnGala in der Porsche-Arena war das Gegenteil von Turnunterricht am Gymmie. Im Grunde ist es eine tiptop durchchoreographierte Show, die auf Tour geht. Wie heute ja sovieles, was man aus der Schule kennt, durch mittelgroße Eventlocations tingelt: Deutschunterricht zum Beispiel – wenn dieser Besserwisser mit seinem doofen Dativ auf Tour geht. Oder Hundeerziehung.

Oder deutscher Heavy Metal. Wie letzten Samstagabend erst in der Filharmonie Filderstadt. Eine Top-Location by the way, weil die Bühne unten und die Ränge oben sind und man von fast jedem Platz aus einen Blick auf die alternden Musiker hat, wenn man das will. Ein Besucher kam konsequenterweise mit dem Trekker. Keine Pointe. Kein Witz.

Wer Pressetexte liest, ist klar im Vorteil. Ich hätte dann im Vorfeld verstanden, was mich bei der TurnGala erwartet. „Eine internationale Show aus Turnen, Gymnastik, Sport“ nämlich. Mit „Höchstleistungen am laufenden Band und einer Mischung aus Theater, Sport, Musical und Varieté.“

Angereist kam zwar keiner mit dem Trekker und alle mit dem Auto und kaum einer mit der U11. Wahrscheinlich auch, weil die Zielgruppe der TurnGala eher nicht in Zone 10 zuhause ist. Nachdem ich mich von dem Schock erholt hatte, dass da eine Bühne aufgebaut war und die Halle voll war, ging’s los.

Und zunächst war meine Welt aus schönen Vorurteilen auch noch in Ordnung: ein schwäbischer Turnverein aus Zone 91 (Kuchen Bahnhof) kam mit einem als Mühlrad verkleideten Rhönrad und vielen als Müller verkleideten Menschen auf die Bühne.

Ein Medley aus „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ und „Take on me“ in der Technoversion eskalierte. Die Müller bogen sich, das Rad drehte sich und das Publikum freute sich und klatschte. Klippklapp Klippklapp…take on me…take me on. Winkewinke.

Es folgte eine weitere Regionalgruppe im Baströckchen. Haigerloch grüßt Polynesien. The coolest monkey in the jungle. Dann sprach der Präsi des schwäbischen Turnerbunds ein paar aufmunternde Worte gegen den Bewegungsmangel und für die 1.800 Turnvereine in Württemberg. Danke AOK, danke Spardabank, danke ENBW, danke Ehrenamt. Er schloss mit den herrlichen Worten: „So isches au.“ – und machte die Bühne frei.

Next Act, next Ohrwurm: Ich treib gerne Sport schalalalala auf die Melodie von „Brown girl in the ring“. Hammersong. Und eine Hammerperformance, bei der ein arthrose-freies Ömchen inmitten von Kids Dinge auf einem Barren machte, die die meisten von uns nicht mal ohne Barren schaffen. Und spätestens da sprang der Spirit von Sport auf alle über: immer fit und beweglich sein. Sport hat nix mit Alter zu tun. Und Alter nix mit Unsportlichsein.

Das Publikum brach in Jubelstürme aus. Und die Show, die sich ab da immer mehr in Richtung André Heller meets Cirque du Soleil meets Wetten dass…, bewegte, hatte ihren ersten Höhepunkt.

Ich war eigentlich darauf eingestellt, den Turn- und Sportbund Schwäbisch Gmünd mit dem Fansong „Hey, hey 1844“ anzufeuern. Stattdessen trat die russische Nationalmannschaft (!) in Sportakrobatik auf. Ein Künstler mit dem DJ Namen David Locke und weitere, internationale Checker namens Yuliya Raskina, Cirque la Compagnie, Wall Clown, Catwall Acrobats.

Das war alles ganz kurz vor Zirkus Sarasani und ganz weit weg von der miefigen Sporthalle, in der man junge Menschen dazu erzieht, über einen Kasten zu springen.

Der Sprung über den Kasten – bis heute ein Rätsel der Bildungspolitik. Ich verstehe, dass man, wenn man groß ist und zum Beispiel hauptberuflich in der Schräglage GinTonic verkauft, den Satz des Pythagoras ganz gut anwenden kann. Oder das Wissen, das Wasser ein Dipol ist.

Warum man als Kind lernen muss, über einen Kasten zu springen – das verstehe ich nicht. Eine Fähigkeit, die einen doch nur dann weiterbringt, wenn man später als Beruf aus dem Knast ausbrechen oder Parcours machen will.

Einen Kastensprung hat selbst auf der TurnGala niemand gemacht. Dafür Keulen, Ringe, diese komischen Bänder und die Plastikbälle, die man in die Luft wirft. Nur eben eingebaut in ziemlich coole Zirkusnummern. Und auf die Spitze getrieben. Wie bei dem Typen im beleuchteten Rhönrad oder bei der kanadischen Truppe mit ihrem verrückten Butterfly-Trampolin.

Die Instagram-Göre aileentrampoline (Nicht im Bild) schreibt zu dem Thema übrigens ins Interweb: „Those who don’t jump will never fly“. Bitte merkt’s euch, gleist es auch auf und lasst es euch, falls ihr vergesslich seid, auf den Unterarm tättowieren.

Vor und hinter den Kulissen war die Stimmung unglaublich freundlich und die Atmosphäre super professionell. Nur – wie schon beim Reitturnier – war die Musik mehr als zweifelhaft. Ich weiss nicht ganz, wie man auf die Idee kommt, das Publikum bei so einer Veranstaltung mit Saalwetten-Musik auf voller Lautstärke zu beschallen. Aber ok.

Wenn übrigens jemand noch einen Punkband-Namen braucht: feel free. Bitte einfach nehmen und verwenden und sich auf dem Cover des Debutalbums „Dirty Towels – back from the void“ in den Credits bei der TurnGala und kessel.tv bedanken. Merci vielmals.

Nach einer kurzen Pause (um Turn-Merchandise zu kaufen?) ging’s weiter mit den wirklich überraschenden Nummern: vier Frauen, die sich ein Kleid teilen. Das kennt man ja vom Mädchenflohmarkt.

Bei diesem Programmpunkt allerdings alle gleichzeitig und turnend. Klingt doof, war aber gut. Genau wie der Typ auf Rollerskates mit Mini-Halfpipe oder der Wall Clown, dessen Bewegungen im Liegen so an die Leinwand projiziert wurden, dass es aussah, als ob er steht. Kann man nicht beschreiben, muss man gesehen haben. Hier bitte für euch, Sneak-Preview.

Viel war auch mit nacktem Oberkörper. Andererseits, wenn ich so trainiert wäre, wie die Artisten, würde ich auch kein Shirt anziehen. Die Halle tobte zu jeder Nummer. Auch, weil man Value for money bekam. Und das an einem Sonntagnachmittag.

Verrückte Vorstellung, dass die ganzen Artisten, das eineinhalb Stunden später alles nochmal machen. Abendvorstellung. The show must go on und the TurnGala auch. Ich fand’s gut. Weil man muss auch mal was anders als erwartet finden.

Nicht wie der Familienvater, der beim Gehen auf dem Wasenparkplatz P10 zu seinen Kids sagte: „Im Endeffekt genau wie da drübe“ und auf Harald Wolfahrts Palazzo zeigte. Worauf seine eher unsportliche und wenig turn-affine Frau meinte „Aber mir hat’s Esse g’fehlt“.

Ja. Genau. Gruß nach Künzelsau, happy Arthritis und gute Fahrt, ihr kleinen Banausen.

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3 Comments

  1. says: martin

    geil geil geil, meine lieblingsstellen

    „Der Sprung über den Kasten – bis heute ein Rätsel der Bildungspolitik. Ich verstehe, dass man, wenn man groß ist und zum Beispiel hauptberuflich in der Schräglage GinTonic verkauft, den Satz des Pythagoras ganz gut anwenden kann. Oder das Wissen, das Wasser ein Dipol ist.“

    „Das kennt man ja vom Mädchenflohmarkt.“

  2. says: Setzer

    „Viel war auch mit nacktem Oberkörper. Andererseits, wenn ich so trainiert wäre, wie die Artisten, würde ich auch kein Shirt anziehen.“ Watch out for KTV-Stadtbahntag-Oben-Ohne

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