Unser Leser Afro-Dieter hat mich bei meiner zweiten Führung am Dienstag durch die Palais der Kolchose-Ausstellung besucht und eine top recherchierte Review geschrieben. Wow! Vielen danke für die Mühe.
—
Ich mach‘ meinen Urlaub hier, nicht mit der LTU,
ich setz‘ mich in die U6 bis zum Schlossplatz
25 Jahre nachdem Rap nach Stuttgart kam, ist er jetzt im Museum. Das 0711 Büro präsentiert in der alten Stadtbücherei seit zwei Wochen das Palais der Kolchose inkl. der Ausstellung 25K, Events und Podiumsdiskussionen. In Sichtweite des Schlossplatzes, an dem schon die Massiven 1996 Urlaub gemacht haben.
Ehemals dominiert von Büchern und Leihfristen, bestimmen jetzt HipHop Konzerte und eine temporäre Ausstellung zur Stuttgarter Rapgeschichte den Ton. Mit Aufsicht und festen Öffnungszeiten. Und auf keinen Fall mit Getränken in die Ausstellung!
Es ist ein Dienstagabend, circa 80 Besucher stehen im Foyer des Wilhelmspalais und wollen zur Führung durch die Ausstellung. Kolchose Fans von früher tragen eine Hand voll möglicher Rapfans von morgen im Babygurt durch den Saal. Auch deutlich jüngere Gäste wirken interessiert und nicht verirrt, fordern Zeitzeugeninfos vom externen Führer RAM aka Martin aka „Opa erzählt vom Krieg“.
Seine angekündigte Führung war Grund genug für mich, nach Feierabend neben Glühwein noch Geschichte mitzunehmen.
Anfangs noch nervös, erzählt Martin, dass er 1996 in das Kolchose-Ding als Fanboy eingestiegen ist, die sich 1992 gegründet hat. US-Rap hört er seit 1989, 1990.
Aber er weiß wovon er redet, war dabei, kennt die Zusammenhänge, Hintergründe und Stories. Als Zeitzeuge gewährt er seinem Publikum intime Einblicke in die Anfangszeiten des Stuttgarter Hip-Hop, authentisch und direkt vom Leder.
Die Fanta 4 waren seit 1992 zwar kommerziell erfolgreich und respektiert, klangen aber halt doch noch etwas zu Deutsch als US-mässig. Und alles was über den Atlantik rüberschwappte war für die Cool Kids auch früher schon erstrebenswerter als charttaugliche Texte in Muttersprache.
Für Martin lieferten die Massiven Töne 1996 mit „Kopfnicker“ die erste ernstzunehmende Stuttgarter Rap-Platte ab und starteten damit eine neue Ära in Stuttgart. Speziell „Nichtsnutz“ war für ihn die Hymne auf damalige Zukunftsängste, der brillante Text von „Mutterstadt ist heute noch fester Bestandteil seiner DJ Sets.
Eins für den Rap, zwei für die Bewegung
Von klein auf geprägt durch die Umgebung
Martins erster HipHop Club war das Prag. Im Gegensatz zu dem RnB-lastigen Buddah (später Zap) war das Prag noch real. Sicherlich die versifftesten Toiletten Süddeutschlands, aber ein maskulines Loch, das den noch jungen Rap pushte und groß werden lies.
Viele Besucher der Ausstellung können sich das heute nicht mehr vorstellen, dass man damals HipHop-Partys suchen und nicht wie heute eher welchen ausweichen musste. Wenn auf 107,7 oder Antenne 1 einmal „California Love“ lief, war es für Zivildienstleistenden Martin ein guter Tag, sagt er.
Ein weiteres Gewächshaus des Stuttgarter Rap war das Radio Barth Gebäude, laut Martin sozusagen das Fluxus der 90er.Wie heute konnten junge Macher das ungenutzte Gebäude zur Zwischennutzung mieten und Ihr Ding durchziehen. Man erinnert sich an das Grind-Car vor dem Skateshop Firma Bonn, „die gude“ Soundshop, die Radio Bar oder die Anfangszeiten des 0711 Büros.
Ich kauf‘ mein schwarzes Gold second hand im Vinyl West
Oder bei Freddys Record Store direkt aus Übersee
Der junge Martin war nach eigener Aussage kein Breaker oder Sprayer und gesteht ehrlich sein Halbwissen zu den zwei Säulen des HipHop. Anscheinden kann er aber den Moonwalk, nur der ungeeignete Museumsboden verhindert eine Liveperformance. #Weddingdancer
Als DJ kann er aber von den Problemen seiner Zunft in den 90ern berichtet. Konkurrenz zu Eurodance und zu wenig Platz hinterm Pult für gefühlte 27 Plattenkoffer. Ohne Laptop voll gesaugter Mp3s wartete man im Plattenladen auf den UPS-Mann, der den neuesten Shit aus den USA lieferte.
Für Loops, Cuts, Juggling und Co brauchte ein DJ jeden Hit doppelt. Die nötigen 34 DeutschMark gab es auch früher schon nicht geschenkt. #wirhattennichts
Dafür war alles neu – auf keiner Party gab es Wiederholungen, nichts war altbekannt, jeder wollte die junge Rapbewegung pushen und neuen Sound hören.
Um die lokalen Kräfte zu bündeln, gründeten Stuttgarter Rapper und DJs 1992 die Kolchose, später wurden sogar Sitzungsprotokolle verfasst. Punkt sieben des Ausstellungsstück lautet:
„Jeden Dienstag treffen, um endlich aus dem Arsch zu kommen, das Album voranbringen, und das endlich wieder alle zusammen hooken, sich austauschen und updaten.“
Gez. Strachi
Word. Wenn die Schwaben was machen, machen sie es richtig, ergänzt Martin treffend.
Auf einem weiteren ausgestellten Dokument lässt sich 1994 der junge DJ / Rapper / Philosoph und Nachbar Emilio von seiner intensiven Studientätigkeit beurlauben, um am großen Rapper-Austausch-Programm in San Fransisco teilzunehmen, organisiert über das Cumulus-Büro der Stadt Stuttgart für die Mitglieder der Kolchose. Erst vor vier Wochen bedankte sich Afrob nochmal in einem Interview bei den Stuttgarter Steuerzahlern:
„Wir haben damals viel Unterstützung von der Stadt Stuttgart bekommen. Das Cumulus-Büro hat die San-Francisco-Reise organisiert. Der Stuttgarter Steuerzahler ist mitverantwortlich, dass es die Kolchose gibt. Das vergisst man, dass das so war. Die Gelder mussten verteilt werden und es gab Leute, die sich für die Idee eingesetzt haben.“ STN 03.11.17
Es fiel‘ mir schwer, wenn ich woanders wär‘
Denn nur hier kann ich sein, wie bin.
1996 brannten die Massiven Töne mit ihrem ersten Album „Kopfnicker“ ein Loch in die deutsche Hip-Hop Szene und liessen alle anderen Rapstädte erstmal hinsetzen. Ein Jahr später hatte Freundeskreis 1997 mit einer überarbeiteten Version von Anna den ersten kommerziellen Erfolg. Das Original erschien noch unter Maximilian und sein Freundeskreis und klang so:
Das erst Video hierzu, Posse Style, alle Stuttgarter drin, recherchiert von Nikolai (Happy Birthday nachträglich), kann man noch auf VIVA anschauen, wenn man Glück hat. Läuft nicht auf allen Browsern und braucht man Flashplayer. Check.
Im Frühjahr 1999 sorgte die Stuttgarter Kolchose weit über die Landesgrenzen hinaus für kollektive Schnappatmung. Afrob veröffentlichte am 29. März 1999 sein Debutalbum Rolle mit Hip Hop, sein Panzer rollte 13 Wochen durch die Charts.
Am gleichen Tag charteten Freundeskreis mit der Single Esperanto für starke acht Wochen, die Massive Töne cruisten neun Wochen lang mit der nomen-est-omen Single „Chartbreaker“ durch die Hitparade.
Als am 26. April 1999 das Fanta 4 Album 4:99 herauskam, hatte Benztown zum ersten Mal in der Geschichte zeitgleich vier Stuttgarter Hip Hop Crews mit laufenden Chartplatzierungen im Stall. Aufrecht im Bett schlafen war angesagt. Doch mit dem Jahrtausendwechsel folgte auch ein Umbruch in der mittlerweile stark gehypten Rapindustrie.
Martin vermutet, dass einige große Labels wieder die Lust an HipHop verloren und Electro-Pop vorantreiben wollten, der Anfang 2000 aufpoppte. Vielleicht lag es auch an Dj Emilio, der bei einem Clubgig sein großes Vorbild Dj Premier an die Wand spielte. Zumindest aus Sicht seines Lieblings-Nachbarn Ram. #Ramilioneros
Schwer zu sagen warum und wieso, doch gegen Mitte der Nullerjahre wurde der große Trubel trotz Hip Hop Open und einigen dicken Konzerten spürbar leiser. Die nachfolgende HipHop-Generation konnten die Hype-Messlatte nicht oben halten – war vielleicht auch besser so. Ist extremes Medieninteresse gut für Rap / Artists / Subkulturen? #fallendevorhänge #phoenixasche
Retrogottseidank hat sich für Martin der deutsche HipHop aber wieder in den Zehnerjahren erholt und zu neuer Stärke gefunden – genauer gesagt, er ist heute so stark wie nie zuvor.
Zum Abschluss der Führung werden noch Fragen gestellt und Danke-Hi-Fives verteilt. Für einen spannenden Ausflug in die Rapgeschichte Stuttgarts.
Es ist nicht, wo Du bist, es ist, was Du machst
Herzlich willkommen in der Mutterstadt!
Die Führungen finden noch bis Sonntag, 10.12. täglich um 18 Uhr statt (Fr. 8.12. mit DJ 5.Ton, Sa 09.12. mit DJ Friction und So. 10.12 mit DJ Emilio). Der Eintritt ist frei. Etwas früher kommen, weil Jacken müssen abgegeben werden. Mehr Infos.