Prognosen und Erlebnisse: Der 30. September 2010 in Stuttgart

Männerchät für Sub Culture Ausgabe Oktober 2010, aufgezeichnet am 22. September 2010. 

M: will ja nicht den teufel an die wand malen, aber wenn die anfangen bäume zu fällen, kann ich mir so ne straßenschlacht durchaus gut vorstellen

Kutmaster: ich auch und die bilder dazu in den news, blutende rentner. die rentner werden am derbsten auf die mütze kriegen, die haben null demoerfahrung. also die meisten und schnell sind die auch nicht

M: ist eigentlich schon nen wunder wie easy es bislang ist

Kutmaster: ja… die leute werden versuchen den park zu stürmen und das werden nach einiger zeit viele sein und wenn die das, wie ich denke, im morgengrauen machen, sind halt viele rentner dabei. viele müssen ja auch arbeiten und wenn die feierabend haben, könnte schon alles abgesägt sein. der landtag würde sich dann anbieten für diese leute, die zu spät kamen, die würden dann dort rabazz machen. Anyway, ich prognostiziere mal: verletzte rentner und randale vorm landtag später am abend. dann wird bestimmt auch der wasserwerfer geordert

M: wahrscheinlich

Für so eine Einschätzung musste man damals natürlich nicht Nostradamus heißen. Dass es trotzdem so (bzw. noch ganz anders) kam: Umso schlimmer für diese Stadt. Ein ausführliches Protokoll des 30.9.2010, den man Schwarzen Donnerstag nennt und garantiert nicht Gottes Segen hatte, findet man auf Kontext. 

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Der folgende Text ist von Setzer. Irgendwann zwischen 30.9.2010 spätnachts und 1.10.2010 geschrieben, während die Freundin schlief, er es aber nicht konnte, weil er voll von Hass war. Hat er nie rausgerückt. Der Text ist naturbelassen. 

So wie Udo Jürgens „noch niemals in New York“ war, war ich bis vor kurzem noch nie auf einer Demo. Seit ein paar Monaten gehe ich in unregelmäßigen Abständen an den Bahnhof. Ein Mischung aus Meinung, Chronistenpflicht und Neugier ist das. Steine habe ich nie dabei, weil ich nicht gerne Gepäck mit mir rumtrage und so was ja auch in keine Jackentasche passt. Hosentasche eh nicht.

„Wir lieben euch und hassen was ihr tut“, ruft’s aus der Menge während sichtlich überforderte Polizisten wahllos in die Menge greifen, draufhauen und mit Reizgas auf die Leute spritzen. Das wiederum sieht aus, als würde einer mit der Wasserflasche jemanden zum Spaß necken. Ist aber kein Spaß. Leute mit zusammengekniffenen Augen, rot angelaufenen angeschwollenen Gesichtern werden nach hinten geführt und die Augen ausgewaschen. Brennt wie blöd, habe ich mir sagen lassen. Auf den Erfahrungswert kann ich verzichten. Jeder andere auch, glaube ich. Habe selbst nix abbekommen.

Einer läuft mit einer großen Plastiktüte herum, voll mit Handtüchern. „Abtrocknen?“, fragt er. „Nee, passt schon. Kann nur meine Brille nicht putzen, weil mein Hemd, Jacke und Hose pattschnass sind. „Hier“, lächelt er und drückt mir eine Packung Ja!-Taschentücher in die Hand. „Wasser zum Augenwaschen?“, fragt er. „Nö, nix abbekommen“, will ich sagen, dann ist er schon wieder weg und kümmert sich um Leute, denen’s nicht so gut geht. Ein anderer freundlicher Herr schenkt mir eine Schutzbrille. „Bosch“ steht drauf.

Gegen blutige Nasen hilft das nicht. Hab ich auch gesehen. Und eine Frau, die eigentlich ein tougher Mutterficker ist, jetzt aber gerade neben mir steht, heult und gleichzeitig so aggressiv ist, dass ich endgültig nicht mehr weiß, wo oben und unten sein soll.

Denn ist plötzlich Tumult, Geschiebe, Geschrei, Fäuste, Regenschirme werden aufgespannt. Der Wasserwerfer legt wieder los. Kenne das nur aus dem Fernsehen. Maifestspiele in Kreuzberg, Wackersdorf, Startbahn West … Scheiße, für passionierte Kettenraucher wie mich. Will mich DARÜBER aber nicht beschweren. Meine Kehle brennt etwas. Jemand sagt, das Reizgas wäre auch dem Wasserwerfer beigemischt. Will ich nicht überprüfen. Meine Zunge ist nicht so lang, dass ich mein Gesicht ablecken könnte. Und ich konnte in dem Tumult auch niemanden ausmachen, dem ich gerne das Gesicht ablecken wollen würde. War irgendwie auch nicht in der Stimmung dazu.

Bin ein friedlicher Mensch, es sei denn man versucht, mich zu verhauen. Donnerstagnachmittag ertappte ich mich aber dabei wie ich dachte „Leckt mich am Arsch. Ich werf‘ gleich was.“  Und hätte mir jemand etwas in die Hand gegeben, hätte ich dies auch getan. Leider war da nix. Keine Steine, keine Brandsätze. Nur eine Oma, die sagte „Bleiben sie ruhig, die wollen doch nur, dass sie etwas werfen. Den Gefallen tun wir ihnen aber nicht.“

Sie hat mich kurzfristig deeskaliert und ich werde ihr ewig dankbar sein. Denn ich erinnere mich genau an den Moment, als ich tatsächlich blutende Polizisten sehen wollte. Ich zittere immer noch, weil ich mich so nicht kenne und auch nicht leiden kann. Ich fühlte mich wie alle Discharge, Tragedy und Slime Platten zusammen. Ich wollte ihre Knochen brechen hören, nicht unsere. So viel verdammter Hass, das Ventil dafür trug Schutzhelm, Schlagstock und keinerlei Gefühl von Ehre in sich.

Dann wollte ich wenigstens „Bullenschweine“ brüllen. Ging auch nicht. Kenne zwei bis acht sehr nette Polizisten. Die wiegen mehr als die Arschlöcher. Einem wollte ich aber an die Gurgel: Er saß am Steuer eines Wasserwerfer-Lasters, grinste und scherzte mit seinen Kollegen, wie ich das mit meinen Freunden im Bandbus mache. Dann spritzte sein Kollege in einen Baum. Kastanien und Blätter sind runtergefallen. Ist ja Herbst. Der Typ, der im Baum hing, zum Glück nicht. Der hätte sich sonstwas gebrochen.

Dann fielen mir Rise Against ein: „Chairs thrown and tables toppled hands armed with broken bottles standing no chance to win but we’re not running, we’re not running“.

Super Lied, hab immer noch keine Tische, keine Stühle, keine Flaschen – bleib trotzdem da. Auch wenn ich das Gefühl habe, dass ich mit einer Schachtel Kippen bewaffnet mitten in einer Schießerei stehe. „Underdressed“, wie neulich im aer Club, bei der Fetisch Party um die Ecke oder im Bierzelt auf dem Wasen. Plötzlich wieder Aufruhr wie beim Ramones Konzert 1988 in Böblingen. Körper wirbeln wie blöd durcheinander, man versucht sich auf den Beinen zu halten und legt in kürzester Zeit beachtliche Strecken zurück, ohne eigentlich etwas zu tun.

Eine Minute später ist es wieder ruhig. Die Oma ist weg, ich hoffe es geht ihr gut. Neben mir steht ein Typ mit Kapuzenpulli, schwarzer Jacke und fassungslosem Gesichtsausdruck. Ist Nanno von der Röhre. „Hi, Setzer“, schüttelt den Kopf und läuft weiter.

Versuche mir einzureden, ich sei auf dem Ramones-Konzert und viele Bekannte auch. Nanno, Zam Helga, Hannes Orange, Jonas, Phillip Poisel und Putte und so. „one, two, three. four“ und weiter geht’s. „GabbaGabbaHeyHoLet’sGo“. Dann ist’s wieder still. Der eine Wasserwerfer, mit dem Arschloch am Steuer zieht das Geschütz ein. Ich halte meinen Mittelfinger hoch.

Ich sehe den Kutmaster, der fassungslos um sich schaut und ein „Schämt euch!“ Schild in der Hand hält. Wir stehen einfach nur da. Neben uns telefoniert einer. „Ja, kurz heimgehen, was Trockenes anziehen. Dann wieder her“. Auch underdressed, der Kerl.  Keiner war wirklich vorbereitet.

Ministerpräsident Kretschmann zum 30.09. from fluegel.tv on Vimeo.

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16 Comments

  1. says: Pete

    ich weiß nicht ob er es inzwischen versteht, aber zu diesem zeitpunkt hat der liebe herr mappus in keinster weise verstanden, dass es um mehr als 25 bäume geht.

  2. says: denis

    “ Irgendwann zwischen 30.9.2010 spätnachts und 1.10.2010 geschrieben, während die Freundin schlief, er es aber nicht konnte, weil er voll von Hass war.“
    genau so ging es mir auch. auch der text sehr passend, danke dafür.

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