Jetzt guckst Du! Neue Aktionen des trott-war Straßenmagazins

Frau Doktor hat für uns die zwei aktuellen Aktionen des trott-war Straßenmagazins angeschaut. 

Schnell vorbeigehen, nur keinen Blickkontakt aufnehmen – und am besten so tun, als wäre da gar niemand, den ich ganz gerne übersehen würde: Mit dieser Haltung gehe ich, und vermutlich noch sehr viele andere Stuttgarter, oft an trott-war VerkäuferInnen vorbei. Viele Passanten haben die Kunst, sie nicht zu sehen, so weit gebracht, dass sie sich noch nicht einmal mehr aktiv zur Nicht-Wahrnehmung entschließen müssen. Das ist ihnen einfach zur zweiten Natur geworden.

Und genau dieses Nicht-Gesehen werden ist für viele trott-war-Leute so ziemlich das Schlimmste an ihrem Job, egal welches Wetter gerade herrscht.

Passend zur Vorweihnachtszeit starten nun gleich zwei Aktionen, die einfach mal genauer hinschauen und trott-war VerkäuferInnen in den Mittelpunkt stellen. Da ist zum einen der erste trott-war Kalender, zum anderen eine große Plakataktion, die Ende Januar startet und in ganz Stuttgart zu sehen sein wird.

Man kann Menschen mit blauen Blazern ebenso brutal unterschätzen wie Leute, die auf der Straße leben: Thomas Schuler (stv. Verkäufersprecher und Stadtführer trott-war), Helmut H. Schmid (Geschäftsführer trott-war) und Peter X (trott-war) sowie Alexander Hewel (Star Cooperation) und Pascal Staud (Staud Studios) präsentieren den ersten trott-war-Kalender.

Der Kalender porträtiert in Text und Bild zwölf trott-war-VerkäuferInnen, die an ihren Stuttgarter Lieblingsplätzen gezeigt werden: auf dem Haigst, vorm Stadion, auf dem Wochenmarkt. Fotografiert hat Markus Burkhardt (Staud Studios), die Mini-Porträts hat Rolf Lorenz (of Roth & Lorenz-Fame) verfasst. Das Projekt organisiert, Sponsoren gewonnen und Locations klargemacht haben Alexander Hewel und Pascal Staud.

Jedes Kalenderblatt wird von einem anderen Stuttgarter Unternehmen finanziert, die den Kalender auch an Kunden und Mitarbeiter weiterverschenken. Allein damit kamen schon mal gut 20.000 Euro zusammen.

Aber auch die geneigte Leserin kann sich in den Reigen der Gutmenschen einreihen: Der wirklich schön gewordenen Kalender ist für fast geschenkte 10 Euro bei jedem trott-war-Verkäufer zu kaufen oder kann beim Verein bestellt werden.

Wie üblich beim trott-war-Geschäftsmodell bleibt beim Straßenverkauf die Hälfte des Kaufpreises als Gewinn bei der Verkäuferin, die andere Hälfte geht an den Verein. Die Initiatoren des Kalenders und trott-war hoffen, über den Straßenverkauf die Spendensumme noch weiter aufstocken zu können.

Das Geld kann man bei trott-war gut gebrauchen: Denn der Trott-war e. V., der Verein und das Sozialunternehmen, die die Straßenzeitung produzieren, erhalten keine Zuschüsse von der öffentlichen Hand – und das ganz bewusst, denn man will von den Vorgaben und Zumutungen des öffentlichen Förderwesens unabhängig sein.

Das heißt aber auch, dass alle Personalkosten – bei Trott-war arbeiten mittlerweile 16 festangestellte Verkäufer – und die Unterstützungsmaßnahmen, die der Verein seinen Verkäufern bietet, komplett selbst finanziert werden müssen. Dazu gehören ein tägliches Frühstück, eine Kleiderkammer, Zuschüsse zu medizinischen Hilfen wie Zahnersatz und Sehhilfen, Duschmöglichkeiten, vielfältige Alltagshilfen und Sozialberatung. Außerdem gibt es ein Wohnprojekt, gemeinsam mit der SWSG, und das Grabprojekt, um wohnungslosen Menschen ohne Angehörigen ein angemessenes Begräbnis zu ermöglichen.

Weniger direkt geht es beim zweiten Unterstützungsprojekt zu. Hier geht’s vor allem um Publicity für trott-war – und die wird man mit den Plakaten, die ab Ende Januar in Stuttgart hängen sollen, gewiss haben. Treibende Kraft hinter diesem Projekt sind Michael Horlacher (agencyteam, Stuttgart) und Kai Ilg (Ilg Außenwerbung). Was man zu sehen bekommt, stammt vom Fotografen Deniz Saylan und dem Kreativdirektor Jeff Stuart. Saylan hat in den Räumen von Trott-war in der Hauptstätterstraße 30 VerkäuferInnen porträtiert.

(Inge Emig, Straßenzeitungsverkauferin, Deniz Saylan, Fotograf)

Während die Kalender-Aktion ganz bewusst auf die spektakuläre Inszenierung gebrochener Biografien verzichtet und – für Staud Studios eher untypisch – einen dokumentarischen Stil einsetzt, ziehen Saylan und Stuart offensiv die Kunstfotografie- (Schwarz-Weiß, das muss also Kunst sein!) und Pathos-Karte.

Das hätte richtig schlimm schief gehen können. Ist es aber nicht, denn die Porträtierten kontern den Kunstwillen mit ihrer ganz selbstverständlichen Präsenz vor der Kamera – und der Mann hinter der Kamera und am Bildbearbeitungsprogramm lässt sie dabei einfach in Ruhe.

Das Anderssein der Fotografierten wird zwar herausgestellt, aber nicht als voyeuristischer Blick auf die dunkle Seite der Stuttgarter Stadtgesellschaft konsumierbar gemacht. Mal sehen, wie sich das alles macht, wenn Manfred, Mathias, Iris und Gerlinde zwischen VVS-, Frühlingsfest- und Autowerbung hängen werden.

Spätestens im Sommer soll die Aktion Trott-war auch direkt Geld bringen: Die 30 Porträts werden in einer Galerie ausgestellt und können gekauft werden. Der Erlös geht an Trott-war. Teurer als 10 Euro wird’s auf jeden Fall.

www.trott-war.de

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4 Comments

  1. 1+ mit * für diesen Bericht. Sehr Stuttgart! Abzug in der B(oomin’ Granny)-Note gibt es lediglich für den “Reigen der Gutmenschen”. Aber so kurz vor Weihnachten muss man sich nicht drüber streiten, ob es sooo peinlich ist, auch mal für was anderes als Sneaker und Parties Geld auszugeben / zu spenden. 😉

  2. says: Frau Doktor

    Ich bin auf der Mission, den Begriff “Gutmensch” zu rehabilitieren und Ironie sollte auch dabei sein. Daran muss ich also noch arbeiten. Für das dicke Lob einen sehr herzlichen Dank. Und den Kalender kann ich nur empfehlen.

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