In der Oper gewesen, kein Skandal: Zu Gast bei SANCTA

In der Oper gewesen, den Skandal nicht nachvollziehen können. Das lässt sich vielleicht nicht so super auf ein Hoodie drucken oder als FAZ-Headline verkaufen, doch wer tatsächlich zugesehen und zugehört hat, hätte kein Anlass zum völlig überzogenen Skandal und der Mär vom Brechreiz. Sondern vielmehr die Gelegenheit für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Stück, das es auch verdient hat.

Denn es hat mehr mit uns und unserer Gesellschaft zu tun, als eine herbei skandalisierte Empörungswelle übertönen möchte und trägt nebenbei eine der geradezu humanistischsten Botschaften überhaupt. Gastautor Merzy war für euch in dem Stück, über das gerade alle (vielleicht auch zu energisch aufgebracht) sprechen. Und das an Allerheiligen.

So sehr im Fokus war eine Opernaufführung bei KesselTV oder überhaupt in Stuttgart wohl nie. Seit der Premiere Anfang Oktober ist „Sancta“, die Opernperformance von Florentina Holzinger, das Thema schlechthin und schlug sogar international Wellen. Und das ist gut so. Eine kritische (künstlerische) Auseinandersetzung mit der Kirche ist notwendig.

Sancta zeigt und kritisiert patriarchale Strukturen, es geht um das Frauenbild der Kirche und der Gesellschaft, um Sexualität, Körper und Lust. Unübersehbar sind die Triggerwarnungen online und vor Ort, bei echten Gottesdiensten gibt es keine, wie im Beiheft angemerkt wird. Und das trotz Geschichten über Folter, Schmerzen, Kreuzigungen und Leid.

Die Kehrseite des Hypes dagegen ist weniger gut: Neben massiven Anfeindungen kursieren Falschmeldungen über das Stück, die es zum Skandal machen, auch direkt vor Ort. Schon vor Beginn der dreistündigen straight durchgespielten (no pun intended) Aufführung vernimmt man vor dem Opernhaus Gebete und Gesang. Eine Demonstration im Chor gegen die „sündige“ Performance. Das hat ähnliche Vibes wie die jährliche CSD-Gegendemo auf dem Marienplatz. Im Foyer sammeln Nonnen vorab Beichten auf Papier für später, zugleich wird es im Saal düster, dissonanter Noise der Streicher im Orchestergraben, so wunderbar-schauerlich wie bei Ligeti.

Oper – aus meiner Perspektive zunächst ein bildgewaltiges, popkulturelles High-End-Erlebnis, in dem alles möglich erscheint. Eine Bühne wie eine Spielwiese mit schier unendlichen Möglichkeiten und Ausdrucksformen.

Sancta verbindet all dies: Es ist eine Rockoper, ein Rave, naked Starlight Express und cursed Sister Act in einem, mit einem Bühnenbild wie von einem Black Metal Konzert entliehen. Es verbindet gleichermaßen die Weather Girls, Peaches und Sunn O))) und schreibt die Schöpfungsgeschichte neu. Ein Schrei wie bei „Exorzist“ fährt einem durch Mark und Bein und lässt einen an The Nun denken, im nächsten Moment Technobeats, Burlesque und Berghain. 

Eine Halfpipe mit skatenden Nonnen, eine Boulderwand wandelnder Kruzifixe in akrobatischer Höchstleistung, ein Blutstrom wie bei Shining, eine überdimensionale Weihrauchfassschaukel und eine zerbröckelnde sixtinische Kapelle. Ein im wahrsten Sinne des Wortes heilloses Spektakel voller popkultureller Referenzen, mit jeder Szene ein neuer Break, grenzauslotend und rauschhaft schöne Überforderung.

Man findet sich wieder im Garten Eden, das letzte Abendmahl ist in Strobo-Lichtern getaucht, Bauarbeiter masturbieren breitbeinig, ein Tausch der Geschlechterverhältnisse. Eine Besetzung durchweg aus Frauen*, eine feministische Produktion, das allein ein schon beeindruckendes Statement im Kunstbetrieb.

Beeindruckend auch die Magie des Opernbetriebs an sich, wie im Augenwinkel neben der eigenen Gebanntheit beinah geräuschlos ein neues Bild, ein neuer Raum im Zentrum des Geschehens entsteht, auch das soll ein weiteres Plädoyer für die Notwendigkeit der Sanierung des Opernhauses sein, deren Mitarbeiter*innen mit veralteter Technik und weiteren Bürden kämpfen müssen und für jene Magie sorgen, eine Hintergrundführung lohnt sich.

Der nächste Break: Mit den Klängen von Eminems „Without me“ durchbricht Dragking Jesus („Jesus‘ back, back again“) die vierte Wand, entzückt das Publikum abwechselnd auf englisch und schwyzerdütsch und vaped im Opernhaus. Vapen, der Weihrauch der Moderne, so weit weg scheint es nicht.

Die gesammelten Publikumsbeichten, manche nur als solche verpackt und offenbaren sich als plumpe Anmachen, werden aber ebenso wie die aufrichtigen, selbstbestimmten, mutigen Statements vor vollem Saal gleichermaßen von ihren Sünden befreit.

Die stärksten Stellen sind die „Confessions“ der Darstellerinnen, als sie sich um den vielbesprochenen OP-Tisch in vertrauter Sisterhood-Atmosphäre versammeln und eigene persönliche Erfahrungen mit Kirche und Religion miteinander austauschen. Sie erzählen u.a. von Übergriffen, Queerfeindlichkeit oder häuslicher Gewalt. Und wie sie sich im Verlauf im Kollektiv gegenseitig aufbauen, stärken und sich durch empowernde Statements heiligsprechen. („I should be a saint, because I have provided uncomplicated comfort, sex and solace with the simple transaction of money“)

Am Ende entlässt einen das Stück mit einer zutiefst humanistischen Botschaft, gemeinsam singt ein tausendköpfiger Chor „Don’t dream it, be it“ und verkündet stark verkürzt gesagt: Es ist okay, so wie du bist. Doch dies in aller Deutlichkeit. Your body your choice. Eigene Hoffnungen und Träume zählen. Eine Utopie und Vision in einer Welt voller Ausgrenzung, Hass und Ungleichheit. Doch Sancta ist auch ein Stück, dass das Leben feiert und in diesem Moment ein befreiendes Gefühl hinterlässt.

Aber ein Skandal? Nein. Skandalös sind nur die Hasskommentare, die direkten Angriffe auf die Oper, die Anfeindungen an Florentina Holzinger und an das gesamte Team. 

Wir können froh sein, ein so progressives experimentierfreudiges Opernhaus in der Stadt haben, das sich bemüht, eine zeitgemäß spannendes Programm zu bieten, auch mit neuen, herausfordernden Formaten. So schön und relevant Carmen und Zauberflöte auch ist, Sancta braucht es auch.

Die frohe Botschaft zum Schluss ist zugleich auch das stärkste Signal der Oper, sich hinter ihre Künstler*innen und die Produktion selbst zu stellen: Sancta wird in der nächsten Spielzeit 2025 erneut in der Stuttgarter Oper zu sehen sein.

Gemessen an der Begeisterung im Zuschauerraum und der generellen immensen Aufmerksamkeit für das Stück, die einzig richtige Entscheidung – nicht nur angesichts des großen Erfolgs: Es unterstreicht abermals die starke Haltung der eines vielfältigen, offenen Opernhauses mit Rückgrat, das Stuttgart braucht. Und nebenbei ist die Neuauflage auch die Chance für viele, die bei den ersten sechs Vorstellungen leer ausgegangen sind. Bis dahin gerne den Pulli tragen.

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1 Comments

  1. says: Peter

    Interessanter Bericht, der auch nochmal aufzeigt, dass reaktionäre Kräfte getriggert werden, wenn ihr Narrativ der „heiligen“ Kirche und ihrer „Unfehlbarkeit“ bloßgestellt wird.

    Nicht umsonst geben die Kirchen Mio für PR und (rechte) Anwälte aus um vom eigenen Versagen abzulenken. Sie pushen Falschbehauptungen und Extremisten während sie bei z.b. Missbrauchsopfern um Entschädigungen feilschen wenn Vertuschung und Verjährung nicht mehr ziehen.

    Ich habe das Stück auch (noch) nicht gesehen und über Kunst kann man definitiv streiten. Nicht aber über Kunstfreiheit mit Drohungen bzw. Hasskommentaren.

    Ich erinnere gerne an die CDU Osnabrück, die im Sommer eine Ausstellung „verbieten“ wollte ohne sie überhaupt gesehen zu haben, weil dort Exponate nackt waren (eigentlich weil dort „Frauenthemen“ und Nacktheit) thematisiert wurden

    Der Kulturkampf ist in vollem Gang und die Reaktionäre gießen Öl ins Feuer.

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