Electro-Konzert: Paul Kalkbrenner in der Stuttgarter Schleyerhalle

Manchmal fremdelt man sogar in der eigenen Stadt. Wenn man sich zum Beispiel beweisen möchte, dass alleine ausgehen sehr erwachsen ist.

Samstag war der Kalkbrenner in der Stadt. Hatte ihn vor einem halben Jahr schon einmal gesehen, in Berlinchen, in der Wuhlheide, war wolke gewesen, hatte also große Lust, mir ein StĂŒck vom Sommer 2011 zurĂŒckzuholen. Den gab es trotz anders lautender GerĂŒchte tatsĂ€chlich, zumindest Anfang Juni in Berlin, voll so mit gentrifizieren, Kreuzberg kaputt shoppen und Paule halt.

Am Wochenende also der Test: Wie viel Wuhlheide steckt in Bad Cannstatt? Ist Open Air grundsĂ€tzlich besser als unter Tage? SchlĂ€gt Stadion immer Halle? Im Vorhinein hatte sich mein komplettes BĂŒro akkreditiert. Kommt immer gut, wenn sich Lift plus acht anmeldet. Freut sich der Veranstalter. Vor allem, wenn dann doch keiner auf der Matte steht. Ich mag meine Kollegen trotzdem, auch wenn sie wie am Wochenende Metropolen wie Hamburg, Konstanz oder, nun, ja, Bielefeld der Schleyerhalle vorziehen.

Geh ich halt alleine, macht Joe Bauer ja auch nicht anders, spaziert als One-Man-Show durch die Weltgeschichte und schreibt dann drĂŒber. Das will ich auch können, wenn ich groß bin.

Also mutterseelenallein mit der Wasen-Linie als einziger Fahrgast um 21:30 Uhr Richtung Neckarpark. Aufs Volksfest geht man um die Zeit nicht mehr, da ist man schon dort und dicht und hacke. Am Wasen ausgestiegen, Kotze und Alkis umtĂ€nzelt, in der Schleyerhalle von einem mĂ€chtigen Bass freundlich begrĂŒĂŸt, um gleich mit einem landestypischen GetrĂ€nk auf Betriebstemperatur zu kommen: Vodka Bull aka Discoschorle.

Mann, bin ich erwachsen, denke ich mir so, wĂ€hrend 7.500 Menschen neben mir Spaß haben. Zwei BasslĂ€ufe spĂ€ter fremdle ich so ganz alleine im Innenraum aber ein bisschen. Nicht, weil das Publikum schlimm ist, im Gegenteil, hatte Grausameres befĂŒrchtet, sehr jung, sehr gut drauf, extrem gute TĂ€nzer. Zumindest einige.

Nein, ich fremdle, weil ich doch kein Joe Bauer bin. Ich brauche Ansprache, jemanden, mit dem ich teilen kann, wie Musik eine Halle verĂ€ndert. Wie sich ein Betonklotz wie Herr Schleyer anfĂŒhlt, je nachdem, ob Leonard Cohen einen spirituell ins All knallt, die Beginner als Support fĂŒr die Beasties spielen oder Pink eine Hollywood-Show auf der BĂŒhne abliefert.

Mein Colt fĂŒr alle FĂ€lle ist in solch einem verzweifelten Fall Arnulf, Teil der am Dax der Emotionen extrem hoch dotierten Firma Music Circus, Presseabchecker vom Konzertveranstalter Russ und ĂŒberhaupt ein Möglichmacher erster GĂŒteklasse. Arnulf hat mich mal im Ansehen zweier Teenager in unendliche Höhen katapultiert, als die beiden bezaubernden Geschöpfe bei Pink wegen lauter SWR3-Höhrer nichts sehen konnten. Darauf Arnulf angebettelt, der sofort mit zwei Deluxe-BĂ€ndchen fĂŒr die erste Reihe um die Ecke kam. Ein Gentleman der alten Schule eben.

Samstag also SMS an Arnulf: „Junge, biste bei Paule? Rette mich!“ – â€žKlar, Keule, wie?“ (So sprechen alte MĂ€nner miteinander) – „Ich bin der einsame Raver ganz hinten links, brauche Ansprache, biete Discoschorle.“

Arnulfs Begeisterung hĂ€lt sich in Grenzen, Antwort bleibt verstĂ€ndlicher Weise aus, also noch mal getextet: „Ich nehm’s zurĂŒck, musst nicht mir sprechen und trinken, ich brauch aber ein BĂ€ndel, um nĂ€her nach vorne zu kommen.“ Zwei Sekunden spĂ€ter steht Arnulf neben mir, ich erhalte die Paul-Kalkbrenner-Dienstkarte Nr. A23 am blauen Band, mit der ich dem Paule fĂŒr den Rest des Abends ganz genau auf die Finger schauen darf.

Kurze Lagebesprechung: „Hab mir’s schlimmer vorgestellt.“ – â€žIch auch.“ – â€žWie war’s beim Ratzer?“ – â€žFein.“ – „Ok, bis spĂ€ter im Speakeasy.“

Paul Kalkbrenner in seiner berĂŒhmten blauen Phase, kommt direkt nach der roten

Also ich wieder alleine mit mir selbst, ganz gruselige Konstellation. Schreckliche Bilder poppen in meinem Gehirn auf. Richtig, mit 17 war ich schon einmal auf einem Rave in der Schleyerhalle. Mein Kumpel Christian hatte damals nach einerLysergsĂ€urediethylamid-Kur gedacht, er sei schwul. In der Schleyerhalle machte er dann das erste Mal wieder mit einem MĂ€dchen rum und teilte diese Erfahrung anschließend detailliert mit mir. MDMA-Micha, den wir so nannten, weil er eigentlich auf Metallica stand, nach jeder Menge Pillen aber plötzlich Techno besser fand, praktizierte die freie Liebe sogar auf einem Treppenabsatz in der Schleyerhalle. Das sind Bilder, die man im ehrlichen deutschen Techno nicht sehen möchte. Und in seinem eigenen Gehirn schon gar nicht.

Spiel ich also lieber mein Privat-Mallorca, Druckbetankung mit zwei Plastikbier und einer weiteren Discoschorle, um das störende Kleinhirn zu betĂ€uben. Huch ist das erbĂ€rmlich, egal, bin alleine, sieht mich ja keiner. Vorne an der BĂŒhne geht es gut ab. Running-Gag-Einstellung des Abends auf Großbildleinwand: Ein Fischauge-Objektiv zeigt Pauls Finger, wie sie schrauben und drehen. Hat bestimmt keine Funktion, sieht aber gut aus.

Wenn er nicht im Bild ist, raucht er eine kleine Wumme, die aber stĂ€ndig ausgeht. Brennt schlechtes Dope aus der Hasenheide wirklich so erbĂ€rmlich ab? Spielt Paul eigentlich immer den Ickarus aus dem Film oder hat er in Berlin Calling einfach sich selbst gespielt? So oder so unfassbar, was der wieder fĂŒr ein Gesichtsgulasch auftrĂ€gt. Mit wenigen musikalischen Mitteln besorgt er den siebeneinhalb Tausend eine astreine Abfahrt, eine Pause zwischen Teil 1 und 2 nutzt er, um sich umzustylen: Jetzt trĂ€gt er allerfeinsten Zwirn auf, nĂ€mlich ein Deutschland-Trikot von der WM 90.

Ich guck derweil doof aus der WĂ€sche auf die WĂ€sche meiner Mitmenschen. Frauen sind MĂ€nnern grundsĂ€tzlich ĂŒberlegen, ganz besonders aber im Genre Ausdruckstanz. WĂ€hrend Ottonormalschranzer mit dem Beatbein (rechts) wippt, und die Faust (links) zum Bass schwingt, tanzt seine Frau in ausladenden Bewegungen, die Fruchtbarkeit signalisieren: In einer ausgefeilten Choreographie wandert die Rhythmushand von der linken KörperhĂ€lfte auf die rechte Seite des Nackens und positioniert dort die Haare im Viervierteltakt von rechts rĂŒber nach links. Ich bin schockverliebt in diese Geste. Finden andere MĂ€dchen bestimmt ganz affig. Wenn man aber auf sich selbst und Vodka Red Bull zurĂŒckgeworfen, also auf das Wesentliche reduziert ist, wirkt es wirklich ganz bezaubernd.

StĂ€ndig hĂŒpft mir eine TĂ€nzerin auf die FĂŒĂŸe und verbrĂŒdert sich im Akt des Entschuldigens direkt mit mir: Du bist mein Ketamin, mein Amphetamin, sĂ€uselt sie mir ins Ohr. Stimmt gar nicht, das war Casper, der was mit Thees am Laufen hat. Egal, MDMA macht einfach gute Manieren. „Pauli ist der Beste, Alter“, brĂŒllt mir einer von links ins Ohr, rechts schnurren drei Jungs abwechselnd „Harrrrrrrrrr“ und sonst nichts. Wenn Katzen raven könnten.

Hey, ist das nicht dieser Hit mit diesem Sky und diesem Sand? Schnell fĂŒr Mausi und Youtube filmen

Kurz vor der Zugabe: Sky and Sand fehlt noch, Paule ist weg und muss wohl ne neue TĂŒte wickeln. Die ganze Halle grölt die „Seven Nation Army“ der White Stripes. Oh Gott, ich werde wieder nĂŒchtern.

And we build up castles in the sky and in the sand. Design our own world ain’t nobody understand. Und schließlich die berechtigte Frage: Gibt es einen beschisseneren Moment als die Sekunde, in der in der Schleyerhalle nach einem Abriss das Licht angeht? Nein. Also Augen zu und nichts wie weg hier, bei Lichte betrachtet will ich nicht, dass ich jemand kenne und andersherum.

Scheiße, gleich geht das Licht an, DJ Scotty, bitte beam mich ins BĂŒrgerhospital oder so

Auf dem RĂŒckweg fĂŒhle ich mich noch einsamer. Lauter happy Hippos mit mir in der Bahn, ich ĂŒberlege ernsthaft, mir sofort die RĂŒckbank eines Taxis zu buchen, um alleine heulen zu können, als der lustigste SSB-Fahrer der Stadt loslegt. Durchsage: „Macht euch eng, Ihr Lieben, wir halten gleich am Wasen, da wird es voll.“ Murren in der Bahn. Durchsage 2: „Ja, ich weiß, Ihr habt ja Recht, ich wĂŒrde auch lieber durchfahren, geht aber leider nicht.“

Ich brech ab, eine ehrliche Haut in der Kabine, vielleicht wird die Nacht ja doch noch steil. Die Wasen-FahrgĂ€ste wundern sich, wieso wir alle in uns reinkichern, als sie einsteigen und wie ĂŒblich blöd aus der Lederhosen- und Dirndl-WĂ€sche gucken. Vielleicht grĂŒbeln sie aber auch nur, wieso das dumpfe Bier nach dem letzten Prosit der GemĂŒtlichkeit schon nicht mehr so recht wirkt. Oder sie fragen sich, wann sie endlich wieder kotzen können, ohne dass 300 Leute zuschauen.

Funkkontakt in die Welt, Seba ist schon heim, Speakeasy war komisch, schreibt er, Jörg ist sogar schon nach TĂŒbingen geflĂŒchtet, dann muss es aber wirklich hart gewesen sein. Raus aus der Bahn, um beim Imbiss 3000 auf andere Gedanken zu kommen. War mein Ritual des Sommers, nach dem Zechen beim Benny eine scharfe Salsiccia und einen Grappa ordern, um die Nacht Revue passieren zu lassen.

Leider scheint die Imbiss-Saison rum, verdammt, das war dann der Genickschuss fĂŒr den Sommer, also streuner ich doch noch kurz zum Speakeasy, um den Hype zu kapieren. Tausende junge Menschen kommen mir entgegen. Ich kenne niemanden. Scheiße, bin ich mit der Bahn zu weit gefahren und schon in Heilbronn? Nein, da ist Nadine, die behauptet, ich sei ihr in Schlangenlinien entgegen gekommen. „Das liegt an dem neu gestalteten Pflaster zwischen König- und Marienstraße“, erklĂ€re ich, „daran mĂŒssen sich deine Augen erst gewöhnen.“

Vor dem neuen Wunderclub eine Schlange, ich Dödel hab mein Schnorren nicht angemeldet, ist ja tatsĂ€chlich wie Urlaub in einer fremden Metropolregion, also anstehen. Denke ich fĂŒr den Bruchteil einer Sekunde, bevor ich dann doch lieber umdrehe. Bei so viel Fremdeln an einem Abend kann das gar nicht gut gehen. Dann doch lieber alleine spazieren wie Joe. Mit Paul im Ohr auf dem Weg nach Hause Himmels- und Sandburgen bauen. Harrrrr.

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17 Comments

  1. says: martin

    fett keule!

    „WĂ€hrend Ottonormalschranzer mit dem Beatbein (rechts) wippt, und die Faust (links) zum Bass schwingt, tanzt seine Frau in ausladenden Bewegungen, die Fruchtbarkeit signalisieren: In einer ausgefeilten Choreographie wandert die Rhythmushand von der linken KörperhĂ€lfte auf die rechte Seite des Nackens und positioniert dort die Haare im Viervierteltakt von rechts rĂŒber nach links.“ du tanz-analytiker

    und hat das der straßenbahnfahrer wirklich gesagt? dann sollten wir ihm einen preis verleihen!

  2. says: vanDamme

    Sehr schöner Bericht > Paul und du 
 Ihr könnt nicht so richtig miteinander – aber irgendwie auch nicht ohne!

  3. says: martin

    40 euro wĂ€ren auch viel geld fĂŒr jemanden der den ganzen abend nur bass rein und raus dreht, laut meinem kumpel udo der auch dort war. aber ey. mag ihn trotzdem, auf jeden fall mehr als david g. hat er sich alles verdient wie schon paar mal gesagt.

  4. says: afro-dieter

    Also dein Bericht ist definitiv mehr wert als 40 Lappen fĂŒrs Knöpfles drehen 😉
    Fabelhaft geschrieben, wie konnte nur „schockverliebt“ bisher an mir vorbeigehen? Schnappatmung!

  5. says: Kenℱ

    ÀÀh, verdient, weil er in einem low budget film einen druffie gespielt hat? wenn das heutzutage schon reicht… 🙁

  6. says: martin

    ja nö, ich mein, der hat wie du weißt ewig mehr oder weniger erfolgreich im kleinen rahmen rumgeschraubt und jetzt ist er halt richtig big geworden – fĂŒr mich immer noch mehr oder weniger ĂŒberraschenderweise, film hin oder her, der ja kein mega kassenknaller war, sondern eher eine dvd-geschichte. sein sound war frĂŒher wie heute nie ganz mein fall, hab auch keines der alten bpitch alben z.b., aber es gibt fĂŒr mich definitiv schlechtere musik, deswegen sei es ihm gegönnt. aber ey, das hatten wir schon alles hier 😉

  7. says: Kenℱ

    @ martin:

    kann man nicht oft genug aufwÀrmen. sicher gibts da schlimmeres. ich finde es nur Àusserst befremdlich, in welche richtung das alles abdriftet!

  8. says: martin

    ich finds eher eigenartig, dass die leute gerade so massiv zu ihm rennen… mal gucken wie lange das noch geht. und gut, „starkult“ im dĂ€schno ist auch nix neues 😉

  9. @ Martin: Nenn mich Dr. Schlau des Dancefloors.
    @ Van Damme: Das trifft es, „Kann nicht mit, und nicht ohne dich“, wie Peter Fox schon gesungen hat. Sollte ich Paule mal schicken, damit auch er unsere Beziehung besser reflektieren kann.
    @ Afro-Dieter: Schockverlieben ist ein ganz alltĂ€glicher Vorgang. Wenn ich ein MĂ€del wĂ€re, wĂŒrde ich mich z.B. sofort in dich schockverlieben, wenn du wie gewohnt stilvoll das Beatbein in der Corso schwingst.
    @ Ken: Ich sehe es wie Martin: Kalkbrenner hat wenigstens Jahre lang geackert. Klar ist das musikalisch ĂŒberschaubar, was er macht, ich finde es dennoch voll oke.

  10. says: afro-dieter

    Oh mein Aussi, jetzt treibts mir aber die Schockschamesröte ins Gesicht – Das ist das netteste Kompliment, dass mir ein guter Reporter jemals gemacht hat! Und wenn du ein MĂ€dchen wĂ€rst…

  11. says: JoeJoe

    Da sollte man sich nur mal im Klaren sein, wieviele Leute jahrelang ackern…
    Musikalisch ĂŒberschaubar ist recht nett gesagt, man könnte es auch One-Hit-Wonder mit Hymencharakter nennen. Denn viel mehr kam da nicht.
    Ehrlichgesagt muss man dem Typen ja glatt Respekt zollen: Wenn richtig abzocken, dann jetzt!
    Wo aber jetzt der Unterschied zu einem hated Guetta sein soll oder einem begnadeten Idioten wie Babba VĂ€th kann mir gerade auf die Schnelle niemand erklĂ€ren…

  12. says: afro-dieter

    Moment, das Hymen war doch was anderes, oder? (sorry, ich konnts nicht halten)
    Äh, und zum Thema: Also den Massen-Hype und daraus resultierende Hysterie kann man glaub eh nie so ganz rational erklĂ€ren, aber im Vergleich zu Hypes vor 60 Jahren finde ich das noch ganz ertrĂ€glich. Vorallem als MDMA-Micha 😉 (ersetze MDMA mit Schnaps)

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