Ich muss echt bescheuert sein. An Allerheiligen sitze ich doch tatsächlich im Auto gen Backnang – Home of the Nopper – und fahre zu einem wfv-Pokal Auswärtsspiel der Stuttgarter Kickers gegen die TSG Backnang. Die Schlaubi-Schlümpfe unter Euch sagen da jetzt natürlich: Das hätte man auch mit der S3 machen können. Und die ganz Schlauen meinen: oder man hätte es lassen können. Und alle habt Ihr recht.
Tatsächlich war es so eine Mischung aus Amateurfußball-Entzugserscheinungen und schlechtem Gewissen, weil ich weder gegen den VfB II (2:0), noch gegen Waldorf Astoria (2:2) im Gazi-Stadion war, die mich auf diese Tour de Force geschickt hat. Und wenn man keinen Alkohol trinkt, hat man eben auch keinen Halloween-Hangover, der das Fernbleiben entschuldigt hätte.
Außerdem bin ich dieses Jahr schon zwei-, dreimal am Backnanger Etzwiesenstadion vorbeigefahren und habe mir jedesmal gedacht: der Sportplatz da unten in der saftigen Aue liegt sehr wildromantisch. Hinzu kamen 15,5 Grad, starke Indian Summer Vibes und eine Mannschaft der Kickers, die gerade sowas wie einen Lauf hat. Die kicken gut, kämpfen leidenschaftlich und machen Spaß. Das war ja nicht immer so.
Wie geschunden die Kickers Fanseele die letzten Jahre wirklich war – und noch ist – merkt man auch daran, wieviel Balsam sie verträgt. Dass, was da gerade sportlich passiert (Tabellenplatz 1 Stand 3.11. und wfv-Pokal Viertelfinale) – das wäre eigentlich ein verschreibungspflichtiges Heilmittel. Balsam auf die blaue Seele. Nach dem Abschied von fünf Jahren Oberliga bleiben die Narben, aber die Wunden verschwinden langsam. Und man hat nicht das Gefühl, dass das irgendjemand als Treibstoff für Höhenflüge nimmt.
Wie lange das Momentum bleibt, wird sich zeigen. Und auch, wie man mit Rückschlägen umgeht. Irgendwann wird sie kommen – die unverdiente Niederlage oder die verdiente Klatsche. Die Schwächeperiode und das Tal der Tränen. Alles vollkommen ok.
Aber eines ist auch allen klar: genauso wenig wie die Oberliga ein Ausrutscher war, ist das Obenmitspielen in der Regionalliga einer. Alles kein Zufall, sondern Ergebnis guter Arbeit. Auf dem Platz, neben dem Platz, hinter den Kulissen, auf den Rängen und im Sponsoring.
„Die Kickers sind dumm“ hat mir neulich jemand ausrichten lassen. Wenn sie dumm wären, wären sie nicht aufgestiegen. Und würden nicht da oben stehen. Und sie hätten die guten Leute gehen lassen und keine besseren geholt. Ich bin kein Sportanalyst, Transfer-Guru oder Taktik-Experte – aber das schaut doch auf dem Platz, in der Tabelle, bei den Zuschauerzahlen und in dem, was man auf den Rängen von der Chemie und der Mentalität auf dem Rasen mitbekommt, alles nicht so ganz grundverkehrt aus.
Sportlich gab es also genug Gründe, nach Backnang zu fahren – und kulturell sowieso: die Buchstaben B A C K N A N G, die da am Stadtrand Hollywood-gleich thronen, sind inzwischen in Regenbogenfarben gehalten. Backnang-Pride. Das wäre unter dem Bürgermeister Nopper vielleicht so nicht passiert.
Der zweite Aufreger: alles ist gesperrt, überall stehen Feuerwehr und Polizei und mittendrin zwei Kleinwagen mit Totalschaden. In der Kreiszeitung online lese ich später den Grund: 89-Jährige rammt Pizza-Express. Willkommen im Rems-Murr-Kreis. Und irgendwo wartet jemand auf seine Calzone.
Die Auswärtsfahrer parken in Backnang backstage, auf dem Betriebsgelände der Firma Ericsson und werden dann durch ein runtergerocktes Industriegebiet zum Stadion geleitet. Vorbei an der ersten Sehenswürdigkeit: das Juze Backnang. Juze habe ich wirklich schon lange nicht mehr gehört. Natürlich stiefel ich erstmal rein, und natürlich stehen da drin bärtige Erwachsene mit Dreadlocks, spielen Tabletop und fragen mich entgeistert, ob man helfen kann. Kann man, ich wüsste wirklich gerne what the fuck Tabletop ist.
Die Antwort ist eher einsilbig mürrisch in den Fusselbart geraunt als auskunftsreich, also frage ich Google: Da steht, tabletop bezeichnet Strategiespiele, bei denen zwei oder mehrere Spieler mit Miniaturfiguren auf einer „Tischplatte“ (en. Tabletop) antreten. Ah jetzt ja. Bei uns hieß das früher Tippkick.
Auch der weitere Weg zum Stadion Schrägstrich Bolzplatz ist spannend. Ein kleiner verschlungener Fußweg zwischen Fachwerkhaus und Flüchtlingsunterkunft führt über die Back, die Rems, die Murr oder whatever, immer an der Rückseite verratzter Industriegebäuden entlang. Und jemand hat versucht, einen Hofflohmarkt nachzustellen.
So ganz weiß man nicht, was hier überall hergestellt wird. Ericsson Handys sicher nicht mehr. Vielleicht eher Schwerter. „Findest du das?“ schreibt ein Freund, der hier in der Gegend wohnt, auf meine Info, dass ich gerade zu Fuß unterwegs ins Etzwiesenstadion bin. „Das ist im Norden von Stuttgart, unter einer Brücke.“
Ich folge einfach den Kids in kurzen Hosen und DeBruyne Trikots – wo werden die denn sonst schon hingehen? Vorbei an Wertstoffhof und Riesenbaustelle führt der Weg, der jetzt immer schlammiger wird. Hätte man das gewusst, hätte man besser die Matschehose angezogen.
Dann endlich der Eingang. Oberliga BW steht auf dem 10 Euro Ticket. Und das gilt ja zum Glück nur noch für eine von zwei Mannschaften. Wir Kickers Fans werden eingepfercht und mit einer Vier-Dixi-Klo Infrastruktur beruhigt. Der Großteil schifft ins Gebüsch.
Der „Auswärtsblock“ ist eher ein Auswärtserdhügel, aber es kommt herrliche Umsonst & Draussen Stimmung auf. Auch, weil der Stadion-DJ wild zwischen „Rhythm of the night“ und Rio Reisers „König von Deutschland“ hin- und her-fadet und weil uns die Handvoll Fans der Heimmannschaft mit einem unbeholfenen, selbst bemalten Leintuch unterhalten: „Wir für euch. Ihr für uns.“
Ich treffe die Kickers-Offiziellen Kim-Tobias Stehle und „Porno“ Enzo Marchese. Großes Hallo und kleines High Five. Und Enzo, der schon als Spieler mein Held war und jetzt in seiner Rolle als Head of Sponsoring alles dafür tut, dass das so bleibt, raunt mir zu: „Einmal können wir das machen, ein einziges Mal“. Er meint Backnang und er meint, einmal in dieser Saison.
Die Fans hinter mir sind mit der S-Bahn gekommen und haben sich die 20 Minuten zum Stadion mit Outdoor Active hernavigiert. Und sie sehen ein zähes Pokalspiel auf ein Tor, in dem 90 Minuten kein Tor fällt. Schuld daran ist auch der überragende Torwart der TSG mit seiner Machine Gun Kelly Gedächtnis-Blondierung, der selbst die derbsten Slapstick-Abpraller noch irgendwie von der Linie kratzt.
Irgendwann in der Verlängerung treffen endlich die eingewechselten Antlitz und Dicklhuber, Backnang erzielt kurz vor Schluss der Verlängerung dann noch den Anschlusstreffer, aber das reicht. „Souverän“ ruft ein mitgereister Kickers-Fan. Und keiner lacht.
Der Weg nach und durch Backnang war auf jeden Fall mehr das Ziel als das Spiel. Und das interessantere Spiel boten an diesem Tag so oder so die Fantasy-Freaks aus dem Juze.