Anfang Mai erzählte Gastautorin Aycin Akbay, Lehrerin (Sekundarstufe) im Raum Ludwigsburg, wie sie den ersten Schultag nach dem Shutdown erlebt hat. In einem neuen Beitrag setzt sie sich mit dem Thema Fremdenfeindlichkeit und authentischer Demokratiebildung auseinander – aus aktuellem Anlass. Sie stellt sich aber die Frage: „Warum müssen wir auf Tragödien warten? Warum wartet man in der Jugendbildung auf Buchkapitel?“
Fremdenfeindlichkeit. So viel Aufmerksamkeit gab es schon lange nicht mehr. Aber ist nicht das gerade die Ursache von all dieser Tragik? Dass es immer wieder als ein nur aktuelles Thema angesehen wird. Aktuell wegen des Falles George Flyod oder ermordeten Jugendlichen in Hanau.
Eine weitere Aktualität: Geschichtsunterricht, Kapitel 3: „Martin Luther King“. Ethikunterricht Kapitel 4: „Heute sprechen wir über den Islam.“
Warum müssen wir auf Tragödien warten? Warum wartet man in der Jugendbildung auf Buchkapitel? Diese Menschen, diese Kinder und Jugendliche sitzen neben dir, vor dir und leben das Thema jeden Tag oder jeden Zweiten. Sie sind keine Buchkapitel und keine Schlagzeilen.
Bilden und erziehen müssen wir ständig: Demokratisch, auch ohne negative Schlagzeilen oder neue Unterrichtseinheit – authentisch demokratisch. Der Austausch, das Zuhören und sich einsetzen sollte über das ganze Jahr hindurch thematisiert und praktiziert werden.
Wie verbringt der muslimische Jugendliche den Monat Ramadan? Sitz dieser einen Monat lang fastend hinter der Schulbank? Sprechen wir darüber?
Der Martin Luther King Day ist jedes Jahr. Das weiß der dunkelhäutige Jugendliche jeden 3. Montag jeden Januars. Sprechen wir darüber?
Menschenrechte: Stehen ganz oben für uns. In jeglichen Kontexten. Diese zu kennen, ist nicht ausreichend. Aufklären: Wenn Jugendliche Schimpfwörter benutzen, ohne ihre Bedeutung zu kennen. Und zwar nicht mit „Sowas sagt man nicht.“ – und fertig. Sondern: Sprechen wir drüber?
Situationen aus dem Alltag der Jugendlichen müssen gesehen und genutzt werden, vor allem auch um die Zivilcourage zu fördern. Mit „Ich bin nicht rassistisch“ ist es nicht getan. Habe wir schon oft gehört. Oder besser gesagt: Das Schweigen der Lämmer.
Ab wann ist man rassistisch? Wer kann das beurteilen? Wie setzt man sich ein? Nicht mit der Aussage „Ich bin nicht rassistisch“, mit der man eine automatische Abwehrhaltung einnimmt, sei es mit oder ohne Migrationshintergrund.
Sich unvoreingenommen austauschen, nicht nur wegen der anstehenden Projektprüfung oder, liebe Kollegen, wegen der anstehenden Unterrichtseinheit, sondern aus reinem Interesse füreinander. Hier spürt man erneut das Augenrollen: „Ich bin nicht rassistisch. Ich bin Lehrer und habe keine Zeit“.
Ja, der Erwachsene, der hat keine Zeit.
Ja, dein Schubladendenken hat keine Zeit.
Ja, dein Früher-war-es-doch-schlimmer Denken.
Das zu überdenken und zu ändern, dafür hast du keine Zeit.
Wer jedoch eine ganze Weile noch vor sich hat, ist die Jugend, sind die Kinder. Die haben noch Zeit, die Schlagzeilen der Zukunft zu beeinflussen. Hier können wir noch präventiv sein. Und das passiert vor allem hinter der Schulbank. Ja.
Aber auch bei dir daheim am Esstisch. Hoffentlich. Hoffe ich.
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