Die Überschrift führt in die Irre, denn niemals, wirklich niemals würde ich eine Lederhose tragen. Das verbieten in meinem Fall Anstand, Erziehung und Herkunft aus dem Badischen und eben nicht aus dem Bayerischen.
Was ich aber getan habe: Ich habe ein Buch über den Wasen geschrieben. Die Texte sind wie so oft dünn, die Fotos sind aber geil, die stammen nämlich von Martin Stollberg, der Wilden Maus unter Stuttgarts Fotografen.
Das Buch heißt „55 ½ Orte, die man auf dem Wasen gesehen haben muss“. Der Titel ist nicht von mir, den hat sich der Verlag Emons aus Köln ausgedacht, der mit der Reihe „111 Orte, die man in Bielefeld, Bottrop oder Berlin gesehen haben muss“ weltberühmt geworden ist.
Das Buch über Stuttgart heißt übrigens leider nicht 0711 Orte, die man in Stuttgart gesehen haben muss, sondern eben auch 111 Orte undsoweiter. Das ist aber eine andere Geschichte.
Mein Buch ist also ein Spin-off eines erfolgreichen Blockbusters. Mit diesem Wasen-Büchlein möchte ich eines beweisen: Dass das Volksfest nicht nur besoffene Lederhosen im Bierzelt und Moppelkotze auf Dirndl in der U11 bedeutet, sondern vielmehr eine eigene Welt eröffnet – die wunderbare Welt der Schausteller.
Als ich vor drei Jahren bei der Stuttgarter Zeitung angefangen habe, habe ich als erstes großes Projekt die Volksfest-Berichterstattung befohlen bekommen. Ich musste leise weinen.
Mittlerweile freue ich mich ernsthaft, wenn Frühlings- oder Volksfest angepfiffen werden. Weil das ein Milieu ist, indem sich so viele starke Charaktere tummeln, mit denen man tatsächlich eine eigene Vorabendserie bestreiten könnte („Gute Mandeln, schlechte Mandeln“ oder „Verbotene Lebkuchenherzen“ oder so).
Zum Beispiel Jogi Hohl. Der mittlerweile verstorbene Präsident des Schaustellerverbandes war mein Türöffner in die Welt der Schausteller. In Lindas Café, einem hübschen Biergarten auf dem Wasen, hat er mich manchmal in die Schausteller-Stube eingeladen, wo die Fahrgeschäft-Player und Imbiss-Hustler ihre Deals aushecken. Dann hat er mir erklärt, wer alles mit wem verwandt ist, welche Geschichte man mal angehen sollte und wieso der Veranstalter wieder alles falsch gemacht hat.
Hohl ist im vergangenen Jahr viel zu früh gestorben. Der Legende nach ließ er sich noch im Krankenwagen auf den Wasen fahren, um an seinem Stand kurz vor Festbeginn eine letzte Zigarette zu rauchen. Seine Beerdigung in Bad Cannstatt war ein Schauspiel. Schausteller aus ganz Deutschland schwenkten ihre Fahnen, die Besetzung sah teilweise aus wie aus einem Fatih-Akin-Film.
In meinem Buch versuche ich den Spirit von Hohl aufzugreifen und eine Branche vorzustellen, die zu Unrecht im Schatten der großen Bierzelte steht. Bei der Recherche zum Büchlein habe ich zum Beispiel Wahrsagerin Odessa kennen gelernt, die aus der Artisten-Familie Traber stammt. Sie hat mir aus der Hand gelesen, die Prognose war eher unschön.
Ich habe mich in der letzten Woche vor dem Festbeginn auf dem Platz herumgetrieben, weil das die schönste Zeit überhaupt ist: Die Geschäfte werden poliert, es torkeln noch keine Besoffenen über den Platz und man kann den Fuhrpark der Schausteller bewundern.
Beim Frühlingsfest lernte ich so die gesamte aktuelle Produktpalette aus dem Hause Mercedes, einen Maserati und diverse Porsche kennen (Als ich das damals so geschrieben habe, wurde ich danach auf dem Wasen bei jeder Gelegenheit von den Schaustellern verarscht, sie hätten jetzt keine Zeit für ein Interview, sie müssten mit ihrem Maserati noch auf Termin. Fand ich lustig).
In dem Buch stelle ich außerdem das Café Grell vor, ein wunderschönes American Diner, in dessen ersten Stock man garantiert seine Ruhe hat, weil es kein Betrunkener die Stufen hoch schafft.
Die älteste Mandelbrennerin auf dem Platz hat mir erklärt, wieso ihre besten Mandeln Krachmandeln heißen, dass sie mit ihren über 80 Jahren auch deshalb gut durch den Tag kommt, weil sie sich hin und wieder ein Piccolöchen gönnt und dass die Leute vor 60 Jahren auf dem Volksfest auch schon betrunken waren.
Auf dem Krämermarkt habe ich mir die heilende Wirkung von Pferdebalsam erklären lassen: Durch die Nase gezogen hilft es angeblich gegen Kater, hab mich aber noch nicht getraut, es auszuprobieren. Der Krämermarkt an sich ist schon einen eigenen Besuch wert: Vor Urzeiten war dieser Bereich des Volksfestes quasi ein vorzeitliches Internet, man hat lauter Sachen bekommen, die man sonst nirgendwo gekriegt und vielleicht auch gar nicht gebraucht hat.
Heute ist der Wasen-Teil eine Art begehbares Einzelhandelsmuseum, und mittendrin befindet sich der Bibelstand, wo man sich Gottes Beistand für den nächsten Tanz im Bierzelt holen kann.
Dank der Recherche zu diesem Büchlein weiß ich jetzt, wo Angela Merkel ihren Reibekuchen isst, wenn sie auf Volksfesten rumhängt, ich habe gelernt, wo es das beste Softeis und die coolsten Lebkuchenherzen gibt.
Außerdem habe ich erfahren, dass der Campingplatzbetreiber auch ganz gerne in das Kostüm vom Wasen-Hasi schlüpft. Wenn Herr Kaufmann den Wasen-Hasi gibt, hat es im Kostüm 50 Grad, dazu loben ihn weibliche Besucher, dass er einen hübschen Schwanz habe. Klar, dass ich beim Volksfest 2015 für die Stuttgarter Zeitung eine Reportage aus dem Hasen-Kostüm plane.
Lange Rede, wenig Sinn: Wer wissen möchte, was für Konsequenzen die Versetzung der Pissrinne auf dem Wasen für liebestolle Liebespaare hatte. Wer sich für Schaustellerfamilien interessiert, die seit mehreren Generationen durchs Land ziehen, um den Menschen ein wenig Freizeit-Plaisir zu bieten. Und wer schon immer von der befreienden Wirkung des Wildpinkelns auf dem Volksfest geschwärmt hat, ohne aber über die Risiken des Zurückwässerns von oben Bescheid gewusst zu haben, der kann sich mit gutem Gewissen dieses Wasen-Büchlein kaufen.
Wie gesagt: die Fotos sind wirklich gut.
Ingmar Volkmann: 55 ½ Orte auf dem Wasen, die man gesehen haben muss
Mit zahlreichen Fotografien von Martin Stollberg
Broschur, 11 x 16,7 cm, 144 Seiten
ISBN 978-3-95451-673-5