Köpfe, die den Boden nicht berühren

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Hurra. Es war wieder soweit. Geburtstagsgeschenk von kessel.tv. Die große Bescherung. Letztes Jahr haben sich „meine Freunde“ dazu die Schräggeiger-Tour ausgedacht. Ein feuchtfröhlicher Abend auf Bierbike-Niveau zwischen Seekneiple und Irish Pub – Endstation Boa.

Dieses Jahr wollten wir das Niveau ein wenig heben. Im wahrsten Sinne des Wortes: ich bekomme eine Tour durch Stuttgarter Etablissments geschenkt, die sich ausschließlich im 1. Stock befinden. Wenn man nämlich beim Stromern durch Stuttgart den Kopf in den Nacken legt und den Blick in’s 1.OG richtet, fallen einem lauter Bars, Kneipen und Restaurants über Schuhläden, Reformhäusern und Brillengeschäften auf, die man sonst nie entdeckt, geschweige denn betreten hätte.

Startpunkt ist der Vietnamese Takeshi’s im Bohnenviertel. Als ich reinkomme, sitzen Aussi, Thorsten und RAM schon gut gekleidet da. Letztere beide mit einem Rucksack! Sie müssen gegen später noch in je einer Discothek arbeiten. Vermutlich als Rucksackrapper.

„Hast du wirklich einen Tobi Tobsen Pulli an?“ schaut die drei etwas irritiert an. Hab ich, ja, meow. Ich dachte, das wird schräg heute. „Nö, das ist die Edelvariante der Geigertour“ gibt RAM das Motto für den Abend aus. Es soll noch zwei Stunden halten und dann kippen.

Im Gegensatz zum kulinarischen Teil 2012, wo ich im Köfteland zu Landköfte gezwungen wurde, ist im Takeshi’s 4-Sterne-Niveau. Ernsthaft: das Essen ist super, die Atmosphäre toll und der Service  sowieso super-freundlich und schnell.

Die erste Getränkerunde überstehe ich unbeschadet, weil keiner merkt, dass hinter der von mir nuschelnd bestellten Vita Exotika ein alkoholfreier Cocktail aus Cranberry, Traube, nochwas steckt, „die Fitspritze für Leute, die auch mal zuhause bleiben.“ Genau mein Ding.

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Einziger Schönheitsfehler: RAM mag kein Kokos. Außer in Bounty. Wo man es ja kaum rausschmeckt.

Ich möchte uns an diesem Abend nicht bedienen müssen. Kleine Ferkel auf großer Fahrt. Vier Jungs auf einer Art Bundeswehr-Ausscheider-Ehrenrunde, die beim Vietnamesen konsequent Cordon Bleu mit Pommes bestellen. Weil sie urplötzlich einen unbändigen Schnitzel-Käse-Schinken-Yieper bekommen.

Nächster Stop: Scholz, 1.Stock. Ich meide den Laden normalerweise, muss aber einsehen und eingestehen, dass es zwischen Scholz draußen und Scholz drinnen, zwischen EG und 1.OG, zwischen Scholz tags (Sonnenbrillen-Expo) und Scholz abends Unterschiede gibt. Abends, drinnen, oben gibt es eine ziemlich gute Getränkeauswahl von freundlichen Menschen und guter musikalischer Untermalung, an diesem Abend ein junger Herr namens Bow-Tie. Da stören auch die vermeintlichen Zahnarzt(ex)gattinnen am Nebentisch nicht, für die das Verb scholzen erfunden wurde. Der Ex-Mann verdient derweil das Geld.

Eigentlich hatte ich mir die Spielregeln für den Abend so gewünscht, dass wir alle zwischen den Etablissements den Boden nicht berühren. Wie Kinder beim Spielen früher. Das ist zwischen Bohnenviertel, Marktplatz und Hans im Glück Brunnen aber kaum möglich: keiner von uns kann gescheit Parcour. Wir einigen uns drauf, dass an diesem Abend zumindest der Kopf nicht den Boden berühren darf – und ziehen weiter.

Eine 1.Stock-Tour muss natürlich in den „1.Stock“. Da waren wir alle seit Jahren nicht mehr. Das Pendant zum Boa-Besuch 2012. Aber wir finden den Ein- und Aufgang zwischen Veggie Voodoo und Tequila Bar kaum. Die Bedienung scheitert fast beim Versuch, vier Getränke unterm Strich zu 15.50 € zusammenzurechnen. Generation Taschenrechner-App.

Stimmung will so recht keine aufkommen. Dafür führen wir gute Gespräche. Darüber, ob 39 Mio. zu viel für Götze und 15.000 € zu wenig Ablöse für Grüttner (nach der Saison Kickers >> VfB II) sind. Darüber, ob Spielerberater nicht ein guter Job für Thorsten wäre. Und darüber, was wir als nächstes machen, wenn wir den 1.Stock ohne Rauchgasvergiftung überlebt haben.

Beim Hergehen haben wir in der Hirschstrasse, Ecke Drei-Farben-Haus ein vielversprechendes Blinken im 1. OG gesehen. Da ist was. Und wie da was ist. Das Orient-Café Scheherazade. Jetzt wird’s endlich schräg. „Wollt Ihr da wirklich rein?“

Von Wollen kann da nicht die Rede sein. Form follows function. Tour follows Konzept. Im 1. Stock betreten wir einen großen Raum, der genauso verraucht ist, wie der „1. Stock“. Nur diesmal ganz Shisha-schwanger. Wir sind die einzigen Schwaben. Und die einzigen vier Seggel, die sich nicht die Shisha-Karte bringen lassen. Vier knallharte Typen auf einer knallharten Tour bestellen viermal Schwarztee.

Auf einem riesigen Samsung-Flachbildschirm poltert die orientalische Version von Let’s Dance und an den Tischen spielen Männer Backgammon oder Smartphone. Wir dagegen spielen das Pubertätsspiel mal sehen, wieviele Wörter wir mit einem ü verhünzen können, bevor wir rausfliegen. Als Aussi gesteht, dass ihm vom schwarzen Tee ganz blümerant wird, streichen wir die Segel. Weiter geht’s zum Highlight der Tour:

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Die Karaoke Bar Pataya am Marktplatz. Die haben wir uns von unten alle größer vorgestellt und RAM vor allem besser. Schon nach den ersten Takten Musik sagt er „In der Sisha-Lounge hab ich mich wohler gefühlt.“ Während wir anderen drei sofort mit dem Singen vom Blatt anfangen. Nicht mit dem Mikro, aber mit der Menge.

Wir sind mitten in einen Junggesellinnen-Abschied aus Karlsruhe reingetreten. Die Damen tragen Mottoshirts mit Comic Sans Aufdrucken wie „Die Sexual-Therapeutin“, „Ersatz-Mama“ und „Busen-Freundin“ und sie singen Lieder von Geier Sturzflug, Lykke Li oder Red Hot Chilli Peppers. Wir singen mit.

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Dieser junge Mann wünscht sich sämtliche Hits von Spin Doctors zum Mitsingen. Also den einen.

In einem abgegrabbelten Leitz-Ordner warten Zehntausende Hits und ein Video darauf, gesungen zu werden. Und die Schirmchencocktailtrinkerinnnen aus Kalrsruhe wirken fest entschlossen, jeden einzelnen heute noch zu performen.

Eigentlich ist die Luft noch lange nicht raus, aber RAM und Thorsten müssen irgendwann auf Arbeit, auf Bohre, an die Regler. In die Suite und in die Corso Bar. Aussi und ich bringen beide noch kurz ins Büro, damit sie sich nicht auf dem Arbeitsweg verlaufen.

Aber weil die Suite nunmal im EG und nicht im OG liegt und RAM sich in der Corso Bar weigert, uns auf Zuruf von 4-stelligen Nummern Instrumental-Stücke mit Untertiteln zu spielen, ist jetzt tatsächlich die Luft raus.

Danke für diesen wundervollen, arschlustigen Abend. Aber 2014 wünsche ich mir Geld.

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Verantwortungsvoller Umgang mit der Zeit. Uhr ab 18 verhindert, dass sich junge Menschen am großen Zeiger wehtun.

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7 Comments

  1. says: Bartman

    Komisch, kann mich gar nicht erinnern, was von den Spin Doctors gesungen zu haben, geschweige denn gewünscht 😉

    Herzlichen Glückwunsch nachträglich!

  2. says: Isabell

    Haha, ich hab die kleinen Ferkel auf großer Fahrt sehr gerne bedient.
    Auch wenn´s am Ende doch kein Cordon Bleu mit Pommes gab 🙂

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